Gassen: "Die Gesundheitspolitik bietet aus Sicht der ambulanten Versorgung wenig Anlass zur Zuversicht"
17.05.2023 - Scharfe Kritik an der aktuellen Gesundheitspolitik hat der Vorstand der KBV auf der Vertreterversammlung am Montag in Essen geübt. Statt das ambulante System zu fördern, würden „minderwertige Ersatzangebote“ geschaffen, sagte der Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen mit Hinweis auf die geplanten Gesundheitskioske.
„Die Gesundheitspolitik bietet aus Sicht der ambulanten Versorgung derzeit wenig Anlass zur Zuversicht“, konstatierte der KBV-Chef. „Was wir brauchen, sind Rahmenbedingungen, die es den Kolleginnen und Kollegen in den Praxen erlauben, ohne überbordende Regulierung die Menschen in diesem Land zu versorgen und dafür eine ihrer Arbeitsleistung und Ausbildung entsprechende Vergütung zu bekommen.“
Politische Anerkennung bleibt aus
Das ambulante System in Deutschland „ist – noch – enorm leistungsfähig“, stellte Gassen heraus und fügte hinzu: „Nicht zuletzt, weil es sich in der überwiegenden Zahl um inhabergeführte Praxen handelt, in denen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit ihren Teams mit viel Herzblut für die Menschen in diesem Land täglich da sind.“ Das werde wie selbstverständlich hingenommen, eine politische Anerkennung bleibe in der Regel aus.
So schrumpfe die reale Vergütung seit Jahren, fuhr Gassen fort. Bei anderen Berufsgruppen führe dies zu spürbarem Protest und in der Folge zu Tarifabschlüssen mit teilweise zweistelliger prozentualer Steigerung. Für die Ärzte und Psychotherapeuten seien Kompensationen der gewaltigen Inflationslast nicht in Sicht.
Gassen: „Vielleicht sollte sich der eine oder andere fragen, was in Deutschland passieren würde, wenn nicht die Bahnen 50 Stunden nicht fahren – ein Szenario vor dem die ganze Republik schon seit Tagen zitterte –, sondern die Praxen 50 Stunden geschlossen wären. Ich glaube, das wäre eine wirklich beunruhigende Vorstellung für manchen Gesundheitspolitiker.“
Aber es gebe stattdessen immer noch Politiker, die den Kolleginnen und Kollegen in den Praxen noch mehr aufbürden wollten, kritisierte der KBV-Chef. Die Liste des „mehr Wollens“ sei lang: „mehr Bereitschaftsdienst, mehr Haftung, Digitalisierungsaufwände ohne Mehrwert, aber dafür mit erheblichen Mehrkosten, mehr Gängelung, Einmischung in das Verordnungsverhalten wie aktuell bei Antibiotika und so weiter und so fort“.
Hofmeister: „Dafür brauchen wir keine Gesundheitskioske“
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erwecke den Eindruck, dass sich Deutschland eine „arztgeführte“ Primärversorgung nicht mehr leisten könne, kritisierte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister und betonte: „Das ist geradezu zynisch!“
Richtig sei hingegen, dass es sinnvoller wäre, die Versicherten auf ihrem Weg durch das System besser zu leiten, als dass sie sich diesen Weg selbst bahnen müssten. „Aber auch dafür brauchen wir keine Gesundheitskioske“, sagte Hofmeister.
„Hier sind wir als KBV und als Kassenärztliche Vereinigungen gefragt. Und wir haben längst geliefert“, fuhr er fort. Es gebe viele hervorragende Projekte und Angebote im und aus dem KV-System, die das unter Beweis stellen würden. Ein Beispiel sei die Akutversorgung.
Hier fehle es weder an Ideen noch an Engagement oder an der konkreten Umsetzung. „Das einzige, woran es fehlt, ist eine gesetzlich geregelte, strukturelle Finanzierung“, konstatierte der KBV-Vize. Es könne nicht sein, dass die Vorhaltekosten für den Bereitschaftsdienst aus der vertragsärztlichen Vergütung und damit letztlich von den Ärztinnen und Ärzten selbst bezahlt würden.
Steiner: „Wir wollen über digitale Versorgungskonzepte reden.“
Für eine patienten- und nutzerorientierte Digitalisierung im Gesundheitswesen sprach sich Dr. Sibylle Steiner, Mitglied des KBV-Vorstands, aus. Die KBV sei bereit, Verantwortung für die Digitalisierung zu übernehmen und aktiv mitzugestalten.
„Nicht das Ob ist Inhalt unserer Kritik, sondern das Wie“, betonte Steiner, die im März in den KBV-Vorstand gewählt wurde. Digitalisierung biete viele Chancen für die ambulante medizinische Versorgung von morgen. Allzu oft kreisten Digitalisierungsprozesse aber hauptsächlich um technische Machbarkeit, Standards, Kontrolle und Nachweispflichten. „Wir als KV-System wollen nicht nur über das technisch Notwendige und Machbare reden, sondern vor allem über digitale medizinische Versorgungskonzepte“, hielt Steiner dem entgegen.
Sie ging in ihrem Bericht auch auf die elektronische Patientenakte (ePA) ein, die laut BMG innerhalb der nächsten zwei Jahre 80 Prozent der Versicherten nutzen sollen. Das BMG wolle hier lediglich mit dem Krankenhaus-Entlassbrief und einer Medikationsübersicht starten. Letztere müsse aber automatisiert und übersichtlich auf dem Praxisbildschirm erscheinen, um einen Mehrwert ohne Mehraufwand zu bieten.
ePA muss „echten Nutzen“ bringen
Steiner: „Recherche- oder gar händische Pflege-Pflichten sind für die Ärztinnen und Ärzte weder praktikabel noch zumutbar.“ Und auch für Patientinnen und Patienten müsse die ePA einen echten Nutzen bringen. Der Patientenschutz müsse gewahrt bleiben.
Steiner begrüßte die Pläne des BMG, die Praxisverwaltungssysteme (PVS) für das automatische Befüllen der ePA ebenfalls weiterentwickeln zu lassen. „Der Plan findet bei uns Unterstützung, muss aber verbindliche Standards mit einschließen.“ Notwendig sei auch eine zusätzliche, unabhängige Instanz, die das Einhalten der Standards überwache und gegebenenfalls sanktioniere. „Echten Druck könne nur eine staatlich beauftragte Stelle ausüben“, sagte sie.
Ein weiteres drängendes Anliegen für die Praxen ist Steiner zufolge die Finanzierung der Telematikinfrastruktur (TI). Hier hofft das BMG immer noch auf eine Einigung der Selbstverwaltung, obwohl die Verhandlungen über die monatliche TI-Pauschale gescheitert waren, sagte sie und machte deutlich, dass die KBV weiterhin auf Kostendeckung setze – und das auch bei neuen Anwendungen.
Die ausführlichen Reden finden Sie hier.