"Die Praxis um die Ecke wird zum Relikt" – KBV-Vorstand warnt vor radikalen Reformplänen
08.05.2024 - Vor den Folgen eines radikalen Umbaus der ambulanten Versorgung hat der Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. Andreas Gassen, auf der Vertreterversammlung am Montag in Mainz gewarnt. Er forderte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nachdrücklich auf, diesbezügliche Pläne fallenzulassen.
„Unsere Patientinnen und Patienten wollen keine KI-gelenkte Staatsmedizin, sondern die Sicherung ihrer bewährten Versorgung in ihren haus- und fachärztlichen und psychotherapeutischen Praxen“, sagte Gassen. Diese Praxen seien nicht zuletzt wertvoller sozialer Kitt in einer Gesellschaft, die zunehmend auseinanderfalle.
Lauterbach plant kompletten Systemwechsel
„Es ist offenkundig, dass Teile der Politik, und zwar konkret die aktuelle Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit, einen kompletten Systemwechsel wollen“, fuhr Gassen fort. Lauterbach selbst spreche davon, dass er das ganze Gesundheitssystem umkrempeln wolle. Das Ministerium liste derzeit 15 Gesetze auf, die er möglichst noch vor der Sommerpause in knapp zwei Monaten ins Kabinett bringen wolle.
Dass Lauterbach immer wieder beteuere, er wolle die Versorgung in den Praxen stärken, seien reine Lippenbekenntnisse. „Der Minister hat andere Pläne“, betonte Gassen und verwies auf die neuerliche Diskussion über die angebliche doppelte Facharztschiene. So schlägt die Krankenhauskommission in ihrer jüngsten Stellungnahme vor, dass „nicht primärärztliche Fachärztinnen und Fachärzte nur noch an oder in Kooperation mit Krankenhäusern“ tätig sein sollen.
Die Krankenhäuser würden immer weiter für ambulante Leistungen geöffnet. Es müsse jedem klar sein, welche Ideologie und welches strategische Ziel dahinterstehe. „Nämlich eine Zentralisierung unseres Gesundheitswesens nach skandinavischem oder britischem Vorbild und die Vernichtung der wohnortnahen Grundversorgung in inhabergeführten Praxen“, konstatierte Gassen und fügte hinzu: „Die Praxis um die Ecke wird damit zum Relikt – oder zur privatärztlichen Option für Besserverdienende wie etwa im NHS-gebeutelten Großbritannien.“
Gassen: Staatsmedizin ist eine Totgeburt
Gassen appellierte an Minister Lauterbach: „Vergraben Sie Ihre Papiere zum Umbau des deutschen Gesundheitswesens wieder in den Kellern, in denen sie lagen, seit Ulla Schmidt das BMG verlassen musste. Staatsmedizin war und ist eine Totgeburt. Sie schafft eine gewaltige Benachteiligung, gerade von Menschen, die unser Gesundheitssystem besonders brauchen!“
Hofmeister: Kein Spielraum für Honorarumverteilung
KBV-Vizechef Dr. Stephan Hofmeister begrüßte die vorgesehene Entbudgetierung hausärztlicher Leistungen. „Dass sie kommt, ist richtig und überfällig“, sagte er. Kritik übte Hofmeister daran, dass für die strukturellen Anpassungen der hausärztlichen Vergütung, die der Gesetzentwurf zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) ebenfalls vorsehe, kein zusätzliches Geld hinterlegt sei. „Das bedeutet im Klartext: Vorhandene Mittel werden umverteilt.“
Hofmeister forderte geschärfte gesetzliche Leitplanken ein, die sicherstellen, „dass die Praxen nicht für das gleiche Geld mehr arbeiten müssen“. Für substanzielle Honorarumverteilungen zwischen den hausärztlichen Praxen sei kein Spielraum vorhanden.
KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner hob positiv hervor, dass mit der im GVSG geplanten Bagatellgrenze von 300 Euro im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen für verordnete Leistungen ein erster Schritt zu einem Ende der Misstrauenskultur gegenüber Ärzten und Psychotherapeuten gemacht werde.
Steiner zur ePA: TI und PVS müssen dafür funktionieren
Einen weiteren Schwerpunkt ihrer Rede nahm die elektronische Patientenakte (ePA) ein, die ab 15. Januar 2025 jeder gesetzlich Krankenversicherte erhalten soll, sofern er nicht widerspricht. Dreh- und Angelpunkt für die erfolgreiche Einführung der ePA sei die Telematikinfrastruktur (TI). Die Stichworte hier seien Stabilität, Performanz, Ausfallsicherheit und Funktionsfähigkeit. Das gleiche gelte für die Praxisverwaltungssysteme. Sie müssten die Nutzung der ePA schnell, einfach, gut bedienbar und stabil ermöglichen.
Des Weiteren müssten auch das Bundesgesundheitsministerium und die Krankenkassen endlich ihrer Pflicht nachkommen, Versicherte über die ePA aufzuklären. Steiner: „Gemeinsam sind wir als KVen dem BMG und den Krankenkassen mal wieder weit voraus und haben längst mit der Information von Ärzten und Psychotherapeuten begonnen.“