Ärzte und Patienten im Nationalsozialismus
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KBV übernimmt Verantwortung: Ausstellung zur Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus
28.11.2024 - Mit der Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ präsentiert die KBV die Ergebnisse einer mehrjährigen Forschungsarbeit des Zentrums für Antisemitismusforschung im Rahmen des Projekts „KBV übernimmt Verantwortung“. Im Mittelpunkt stehen dabei die Ärzteschaft, Patienten und die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands während des Nazi-Terrors zwischen 1933 und 1945.
Mehrere Jahre lang sichteten und erschlossen Wissenschaftler des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) im Auftrag der Vertreterversammlung der KBV die umfangreichen Aktenbestände der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD), der Vorgängerorganisation der KBV. Dabei wurde das größtenteils unveröffentlichte Quellenmaterial zunächst in einer Datenbank erfasst und anschließend ein Teil für die nun beginnende Wanderausstellung multimedial aufbereitet.
Gassen: KVD war an Entrechtung beteiligt
Auf rund 20 Roll-up-Bannern mit Texten, Auszügen historischer Dokumente und zahlreichen Fotos sowie zwei Medienstationen liefert die Ausstellung ab dem 29. November einen Einblick in das Arzt-Patienten-Verhältnis und die Gesundheitsversorgung in der Zeit des Nationalsozialismus. „Ärztinnen und Ärzte zeichneten sich im NS-Unrechtsregime für grauenhafteste Taten mitverantwortlich. Auch die KVD war an der Entrechtung und Vertreibung jüdischer sowie oppositioneller Kassenärzte beteiligt“, sagte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV.
Zur Eröffnung am heutigen Abend werden unter anderem Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach und die Vizepräsidentin der israelischen Knesset, Orit Farkasch-Hacohen, sowie weitere Mitglieder des israelischen Parlaments erwartet. Der Historiker und Kurator der Ausstellung, Dr. Ulrich Prehn, wird die Gäste in das Thema einführen und durch die Ausstellung begleiten.
Reis-Berkowicz: Verantwortung für die Zukunft
„Die KBV übernimmt mit der Aufarbeitung ihre historische Verantwortung, die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen“, sagte die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung, Dr. Petra Reis-Berkowicz. „Als Ärzte- und Psychotherapeutenschaft in der heutigen Zeit, als Nachfolgeorganisation der KVD, aber auch schlichtweg als Menschen sind wir dies schuldig – sowohl den Opfern der Vergangenheit als auch unserer Verantwortung für die Zukunft.“
Eindrücklich zeigt die Ausstellung einige ausgewählte Schicksale, wie etwa das des jüdischen Arztes Adolph Calmann. Dieser hatte seit 1908 eine Frauenklinik in Hamburg betrieben, als ihm am 30. September 1938 die KVD die Approbation entzog. Grundlage war eine Verordnung des nationalsozialistischen Reichsinnenministeriums, das die vollständige Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus dem Gesundheitswesen verfolgte.
Calmanns Klinik war die größte ihrer Art in Hamburg, der Arzt betreute auch zahlreiche nichtjüdische Patientinnen. Der Entzug der Approbation und die Degradierung zum „Krankenbehandler“ führten dazu, dass sich seine nichtjüdischen Patientinnen nichtjüdische Ärzte suchen mussten. Calmann durfte fortan nur noch jüdische Frauen versorgen. 1940 entschloss sich der Arzt zur Auswanderung nach Südamerika und kehrte erst 1954 in seine Heimatstadt zurück.
„Gleichschaltung“ und Selbstgleichschaltung
Nicht umsonst trägt die Ausstellung den Titel „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ – veranschaulicht der Name doch, wie tiefgreifend die Veränderungen waren, die nicht nur das deutsche Gesundheitswesen ab 1933 erfassten.
Im selben Jahr entstand die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands als erste gesetzlich verankerte ärztliche Interessenvertretung auf Reichsebene. Doch die baldige „Gleichschaltung“ durch die Nationalsozialisten ging Hand in Hand mit einer Selbstgleichschaltung der ärztlichen Standesorganisationen, wie der Kurator der Ausstellung Dr. Ulrich Prehn ausführt. Prehn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
Vom Mut eines Berliner Ehepaars
Neben den bedrückenden Geschichten von jüdischen Ärzten gibt es auf der anderen Seite zahlreiche Beispiele von Ärzten, die unter dem NS-Regime Karriere machten, sich an schwersten Verbrechen beteiligten und nach dem Krieg mitunter unbehelligt weiter praktizierten. Doch bei aller Dunkelheit jener Jahre gibt es auch die kleinen Lichtblicke. Wie etwa das mutige Berliner Ehepaar Auguste und Karl Gehre, die ihren jüdischen Hausarzt Dr. Arthur Arndt in der Vorratskammer ihrer Wohnung versteckten und seiner Familie bei der Suche nach weiteren Verstecken und der Versorgung mit Lebensmitteln halfen. So retteten sie die Familie Arndt vor der Deportation in die Vernichtungslager.
Ausstellung wird bundesweit gezeigt
Durch Drittmittel förderte die Vertreterversammlung der KBV seit 2018 ein Aktenerschließungs- und Forschungsprojekt über die NS-Geschichte der KVD. Ein Teil dieser Forschungsarbeit ist nun bis 28. Januar 2025 in den Räumlichkeiten der KBV zu sehen. Anschließend wird die Ausstellung der Reihe nach in allen 17 Kassenärztlichen Vereinigungen gezeigt.
Interview mit dem Historiker Sjoma Liederwald
Sie haben hunderte Ordner gesichtet und Dokumente ausgewertet: Die Historiker Sjoma Liederwald und Dr. Ulrich Prehn vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin haben das Archiv der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) zunächst in einer Datenbank erfasst und anschließend aus den Dokumenten die Wanderausstellung konzipiert. Im Klartext-Interview erläutert Sjoma Liederwald die Hintergründe des Forschungsprojekts und zu welchen Erkenntnissen die Wissenschaftler kamen.
Interview mit dem Historiker Sjoma Liederwald zum Forschungsprojekt
Eckdaten zur Ausstellung
„Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ – Wanderausstellung über Ärzte und Patienten im Dritten Reich
- Zeitraum: 29. November 2024 bis 28. Januar 2025
- Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 9 bis 20 Uhr
- Ort: KBV, Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin, Foyer im Gebäudeteil I
- Eintritt: frei