Es ist 7:30 Uhr an einem Dienstagmorgen. Der erste junge Patient des heutigen Tages sitzt bereits im Wartezimmer der Berliner Kinderzahnarzt-Praxis "KidsDocs". In der Mitte des Raumes steht ein Aquarium. Spielzeug und Kinderbücher in einer Kiste daneben. Der Junge mit dunklen Haaren kuschelt sich an die Schulter der Mutter. Auf dem Stuhl neben ihnen, sitzt Toms Vater (Name geändert).
Anästhesist Dr. Sean Peter Steinbach begrüßt seinen ersten Patienten im Wartezimmer. "Darf ich was essen?", fragt der Vierjährige mit müdem Blick. Das "Nein" von Steinbach folgt freundlich und bestimmt. Sechs Stunden vor der Zahnoperation darf Tom nichts mehr zu sich nehmen. Zwei Stunden vorher auch nichts mehr trinken. Sein Milchzahn ist von Karies durchfressen und muss gefüllt und überkront werden. Außer Tom werden an diesem Vormittag noch fünf weitere Kinder eine ähnliche Zahnbehandlung unter Vollnarkose bekommen.
″Viele Kinder haben sehr große Angst, sobald die Narkose anfängt zu wirken. Für ein Kind ist es viel schwerer zu verkraften als für einen Erwachsenen″ Dr. Sean Peter Steinbach
Für Steinbach gehören diese Zahnoperationen bei den ganz kleinen Patienten zum Alltag. Er ist seit 1997 Facharzt für Anästhesie und auf die Behandlung von Kindern spezialisiert. "Viele Kinder haben sehr große Angst, sobald die Narkose anfängt zu wirken. Für ein Kind ist es viel schwerer zu verkraften als für einen Erwachsenen", sagt er. Routiniert bereitet er das Instrumentarium im Behandlungszimmer vor. Marion Holtz, ausgebildete Krankenschwester, hilft ihm dabei. Ob Karies-, Wurzelbehandlungen oder Extraktionen, die Vollnarkose ist bei Kindern oft unverzichtbar und eine Herausforderung für jeden Anästhesisten.
PeerVisit
Bei aller Erfahrung und Routine in seinem Berufsalltag ist es Steinbach, selbst Vater von drei Kindern, wichtig, seine Arbeit auf die Probe zu stellen. Jeden einzelnen Schritt immer wieder neu zu hinterfragen und das bereits Gelernte mit dem neuesten wissenschaftlichen Stand abzugleichen, gehört für ihn zum Berufsethos. "Mein Credo ist es, Verlernen vorzubeugen und Lernen zu fördern. Das ist genau das, was ich will", sagt er nickend. Steinbach hat sich an diesem Tag freiwillig zu einer Überprüfung seiner Arbeit bereiterklärt. Sein Kollege Jörg Karst, ebenfalls niedergelassener Anästhesist und Visitor bei PeerVisit, begleitet ihn durch die Behandlungen an diesem Vormittag. Seine Aufgabe ist es, Steinbach über die Schulter zu schauen und dessen Arbeit kritisch zu analysieren.
PeerVisit ist ein Verfahren, das das Anästhesienetz Berlin-Brandenburg e.V. entwickelt hat, um die Arbeit der Anästhesisten zu beobachten. Ziel der gegenseitigen Besuche unter Kollegen ist die Qualitätsförderung. Dabei lernen sowohl der behandelnde Anästhesist als auch der Visitor voneinander und tauschen sich auf Augenhöhe aus. Zu diesem Zweck hat sich die Arbeitsgruppe "PeerVisits in ambulanten Anästhesiepraxen" zu Beginn des Jahres 2013 gegründet. Heute zählt das Programm zum anerkannten Kreis der Qualitätszirkel. Für die Teilnahme erhalten niedergelassene Anästhesisten Fortbildungspunkte, die sie auf ihr Weiterbildungskonto buchen lassen können.
Im Behandlungszimmer
Tom ist inzwischen von seinem Vater in das Behandlungszimmer getragen worden. Es ist kurz nach 8 Uhr. Der Junge hat bereits ein saftartiges Schlafmittel getrunken, um zur Ruhe zu kommen. Diese so genannte Sedierung wirkt langsam und beruhigt den kleinen Patienten. Aufrecht sitzt er auf der Liege. Steinbach hält ihm die Atemmaske über Nase und Mund. Das Lachgas dient als Schmerzmittel. Zusätzlich wirkt ein gasförmiges Schlafmittel.
Tom sackt in sich zusammen. Seine Muskelkraft lässt nach. Mit schnellen und geübten Handgriffen legen Steinbach und Krankenschwester Holtz den Jungen auf die Liege. Der Anästhesiekollege Karst hält sich dezent im Hintergrund. "Ich beobachte nur und greife nicht ein. Als Visitor von PeerVisit habe ich unsere Qualitätskriterien im Kopf. Diese gehe ich jetzt im Stillen durch", erklärt Karst.
″Ich beobachte nur und greife nicht ein. Als Visitor von PeerVisit habe ich unsere Qualitätskriterien im Kopf. Diese gehe ich jetzt im Stillen durch.″ Jörg Karst
Es ist 8:37 Uhr. Tom schläft tief und fest. Zahnärztin Hyun Jung Song wird hinzugerufen und setzt Tom nun die Zahnkrone ein. Steinbach protokolliert seine Arbeitsschritte. Wenig später tauschen sich die beiden Anästhesisten über die Behandlung aus. Nach guten 20 Minuten hat es der kleine Patient so gut wie geschafft. Der Atemschlauch wird behutsam entfernt, sobald Tom wieder selbstständig zu atmen beginnt. In einer hellblauen Decke mit Seesternen eingewickelt liegt er nun im Nebenraum, wo Steinbach und Karst gemeinsam seine Aufwachphase beaufsichtigen.
Auswertung im direkten Gespräch
Jetzt bleibt den beiden Kollegen eine kurze Zeitspanne bis zum nächsten Patienten. In einem Besprechungsraum gehen sie die Behandlung noch einmal durch. "Ist dir selbst etwas aufgefallen?", eröffnet Karst das Gespräch. "Es ist schon ungewöhnlich und selten, dass einer einem auf die Finger guckt", kommt die Antwort prompt. Karst geht zunächst den Fragebogen durch, der von dem begutachteten Kollegen im Vorfeld ausgefüllt worden ist. Es folgen Lob und Verbesserungsvorschläge seitens des Visitors. Sie tauschen sich über Arbeitsprozesse aus und geben sich gegenseitig Tipps.
Auch Karst profitiert so von seinen Beobachtungen des Vormittages. "Du warst im Gespräch mit den Eltern unglaublich einfühlsam. Mir hat auch gut gefallen, dass Du eine Maske zum Vorführen beim Vorgespräch dabei hattest. Das werde ich mir auch für meine Behandlung merken", sagt Karst zum Abschluss. Alles, was in den letzten 15 Minuten zwischen den beiden Kollegen besprochen wurde, bleibt im Raum. Der Visitor unterliegt der absoluten Schweigepflicht. Es gibt keinen schriftlichen Bericht. Auf lediglich drei Punkte legen sich die Ärzte fest, die abschließend für statistische Zwecke festgehalten und ausgewertet werden.
Auch Karsts Arbeit als Visitor wird abschließend von Steinbach mit Hilfe eines Evaluationsbogens bewertet, ganz im Sinne des Konzepts: Voneinander lernen. Bevor es für Steinbach zur nächsten Patientin zurück in den Behandlungsraum geht, steht sein Fazit fest: "Wenn man selbstständig arbeitet, findet viel zu wenig Selbstreflexion statt. Man kocht zu sehr sein eigenes Süppchen. Erneuerung und konstruktive Kritik in der Routine sind daher sehr wichtig."
(Autorin: Alexandra Bukowski)
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