Kriedel: „Digitalisierung ist keine Einbahnstraße“
Dr. Thomas Kriedel, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) blickt nach sechs Jahren Amtszeit ernüchtert auf die kaum vorhandenen Fortschritte der Telematikinfrastruktur (TI). „An den Praxen liegt das nicht“, betonte er auf der heutigen Vertreterversammlung seiner Organisation.
Berlin, 2. Dezember 2022 - „Wir können zwar in Superlativen von der TI und allem, was daran hängt, sprechen – aber größtenteils in negativen“, resümierte Kriedel. Neben der elektronischen Patientenakte (ePA) in ihrer jetzigen Form seien ebenfalls der elektronische Medikationsplan, der Notfalldatensatz und das eRezept ein Flop. Genauso wie das „Konnektoren-Debakel“.
Hinzu käme die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), die in den Praxen einen jährlichen Mehraufwand von 1,25 Millionen Stunden verursache. „Man stelle sich einmal vor, wie viele Sprechstundentermine die Politik damit den Patientinnen und Patienten wegnimmt“, so Kriedel.
Zum Jahreswechsel komme möglicherweise ein weiteres eAU-Problem hinzu: Vier Millionen große und kleine Arbeitgeber sollen ab dann die eAU elektronisch vom Kassenserver abrufen. „Dem Vernehmen nach wissen die wenigsten Arbeitgeber davon, noch werden sie organisatorisch wie technisch in der Lage dazu sein. Gelingt der Start des Arbeitgeberverfahrens nicht, heißt das möglicherweise noch mehr Aufwand in den Praxen.
Ob eine weitere Million an Stunden? Wer weiß das schon“, so Kriedel. Daher habe die KBV beim Bundesarbeitsministerium sowie dem Arbeitgeberverband darauf gedrängt, einen reibungslosen Start sicherzustellen.
Alles andere als reibungslos laufe die sichere Kommunikation der Praxen mit den Krankenkassen. „Die Kassen weigern sich, eNachrichten, also sichere E-Mails via KIM-Dienst, von Praxen anzunehmen. Das kann doch nicht sein“, sagte Kriedel. Es sei schließlich der erklärte Sinn der TI, effizient und sicher digitale Informationen innerhalb des Gesundheitswesens auszutauschen. „Digitalisierung ist keine Einbahnstraße“, betonte Kriedel.
Die Digitalisierung à la Spahn stecke in einer Sackgasse fest und unter Minister Lauterbach scheine das Bundesgesundheitsministerium die Lust an der Spahnschen Elektrifizierung von Formularen verloren zu haben. „Was mich stutzig macht: Es waren durchaus auch Politik-Profis beteiligt.
Und doch wurden ganz schwerwiegende Anfängerfehler gemacht“ resümiert Kriedel, „die einen wurden gegängelt anstatt sie zu motivieren, die anderen hingegen nicht in die Pflicht genommen. Man hat sich erpressbar gemacht zum Vorteil der Industrie und dann geht die Politik hin und beschwert sich über die Selbstverwaltung, die blockiere.“
In der neuen Digitalisierungsstrategie von Bundesgesundheitsminister Lauterbach solle die ePA den Dreh- und Angelpunkt bilden. „Sie wollen aus der ePA die berühmte, Eier legende Wollmilchsau machen, die alle gleichsam satt und warm macht. Wenn wir dort wie angedacht alles reinpacken, dann wird die ePA an einer nie beherrschbaren Komplexität scheitern“, prognostiziert Kriedel.
Zudem stelle sich die Frage, ob eine veraltete, nie wirklich im Vollbetrieb erprobte Infrastruktur das Fundament für solch ein schwergewichtiges Konstrukt wie die neue ePA tragen könne. „Wir wissen ja nicht einmal, ob die TI die Volllast schultern kann, wenn Rezepte und AUs komplett digital laufen“, so Kriedel.
Zudem stellten sich den Praxen unzählige Fragen zu den Plänen der Bundesregierung für eine Opt-Out-ePA. „Welche Teile der Praxisakten sollen in die ePA? Auch Gesprächsprotokolle von psychotherapeutischen Sitzungen? In welchen Abstufungen sollen die Versicherten noch Einfluss auf ihre ePA nehmen können? Wie wird sichergestellt, dass eine Filterfunktion zuverlässig alles anzeigt, was für den jeweils akuten Fall medizinisch relevant ist? Wer erhält welche Zugriffsrechte?
All das ist noch unbeantwortet und ich hätte noch viel mehr Fragen auf Lager.“ Wichtig sei von Anfang an, den Fokus auch auf die Primärdatennutzung zu halten und nicht allein die Sekundärdatennutzung allem anderen überzuordnen.
Kriedel warnte vor dem Plan von BMG und gematik, den stufenweisen Rollout des eRezeptes auszusetzen und es bundesweit an einem einzigen Stichtag einzuführen. „Wer zu schnell rast, geht ein höheres Crash-Risiko ein. Das müssen wir vermeiden, um endlich gemeinsam einen echten TI-Erfolg verbuchen zu können, der die Praxen für ihr Engagement belohnt.“
Auch die Finanzierung müsse für eine erfolgreiche Digitalisierung geklärt sein, forderte Kriedel und wiederholte die KBV-Forderung, wonach sämtliche TI-Komponenten staatlicherseits als Infrastrukturaufgabe bereitgestellt und finanziert werden müssten.
Mit Blick auf aktuelle Gesetzesvorhaben ergänzte er: „Es darf nicht passieren, dass die Praxen noch auf Jahre in Vorleistung gehen und mit monatlichen Stotterbeträgen abgespeist werden. Wir fordern verbindliche Preisverhandlungen zwischen Industrie und Kassen.“