Herr von Hirschhausen, weshalb ist Ihnen das Thema Gesundheitskompetenz so wichtig?
"Dieser Augenmerk auf Prävention, auf Krankheiten verhindern durch Lebensstilintervention, setzt meistens viel zu spät ein. Ich glaube sehr stark an die Kompetenz der Ärzte, mit gutem Vorbild und guter Lehre - Doktor heißt ja Lehrer - zum Beispiel in Schulen, in Kindergärten dafür zu sorgen, dass man ganz früh im Leben kapiert, Mensch dieser Körper ist einmalig, er ist ein Wunderwerk, so und so funktioniert er, das tut ihm gut und das lass ich besser. Wir haben keine Pille gegen das Übergewicht. Wir haben eine Epidemie von Menschen, die mit metabolischem Syndrom auf ganz vielen Ebenen krank sind. Wir werden die nicht gesund zaubern. Wir können nur die nächste Generation dafür fitter machen, sich besser zu pflegen, liebevoller mit sich zu sein, und das ist im weiteren Sinne auch eine ärztliche Aufgabe."
Und wie?
"Wir sind Menschen. Und statt sie alle sozusagen nach Schublade und Plan „F" zu behandeln, ist es viel wichtiger einmal zu verstehen, was denkt denn der Patient selber, was seine Krankheit ausgelöst hat. Was ist denn seine größte Angst. Was ist denn sein eigenes Behandlungsziel. Und, ein Blutzuckerwert oder ein Blutdruckwert ist zwar aus medizinischer Sicht ein sinnvolles Behandlungsziel, aber so denkt doch kein Patient. Wenn ich mal verstanden habe, was für ihn denn das bedeutet, was ihm wichtig ist, dann geht er auch den Weg mit einer sinnvollen Behandlung."
Wo liegt das Problem?
"Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass viele Kollegen in der Praxis genervt sind von pseudo-gebildeten Patienten, die mit zehn Ausdrucken aus dem Internet ankommen, und sagen ,Ich weiß schon, was ich habe.‘. Das will kein Mensch. Gleichzeitig zeigt eine Studie von der Bertelsmann-Stiftung, dass Ärzte sozusagen vorinformierte Patienten heute noch kritischer sehen als vor fünf Jahren. Ich glaube, da ist eine schlechte Entwicklung am Gange. Man kann den Patienten heutzutage nicht mehr sagen: ,Gucken Sie ja nicht ins Internet!‘. Das ist unrealistisch. Die meisten haben schon vorher geguckt. Viel günstiger fände ich es, wenn alle Ärzte in Deutschland wissen, was die Top Ten evidenzbasierten, guten, werbefreien Internetseiten sind, die man den Patienten tatsächlich empfiehlt. Also mein Rat, aktiv empfehlen, das und das und das sind auf meiner eigenen Internetseite, da habe ich auch so eine Link-Liste, da weiß ich, das wird genutzt. Lass die Leute nicht im Internet alleine, sondern gib Ihnen an die Hand, was sie im Vorfeld brauchen können, wie sie ein Arztgespräch gut vorbereiten können, welche Fragen sich aus ihrer Vorinformation daraus ergeben. Und dann wird, das was immer kostbarer und immer unter Zeitdruck stattfinden wird - das Arzt-Patienten-Gespräch - viel intelligenter genutzt. Da kann am Ende auch stehen, dass man natürlich nicht alles besprochen hat, aber: ,Gucken Sie mal, diese Informationm, die trifft auf sie zu, und das nächste Mal reden wir über das, was sich daraus ergibt.‘
Ich wünsche mir, dass mit der elektronischen Patientenakte weiter gedacht wird, dass wir so wie Open Notes in den USA endlich den freien Zugang zu allen Befunden und allen diagnostischen Schritten dem Patienten offenlegen. Die Erfahrung zeigt, dass es nicht das Arzt-Patienten-Verhältnis zerrüttet. Im Gegenteil, es wird viel besser. Alle, die damit zu tun hatten, es sind 15 Millionen Menschen schon weltweit, sagten, ich möchte nicht mehr zurück. Das heißt also, das wovon die Deutschen immer denken, oh nein, das darf der nicht wissen, was ich noch...und so, das ist Unsinn, das ist nicht mehr zeitgemäß. Gib dem Menschen Vertrau-en, gib ihnen alles, was sie angeht und dann werden sie noch besser wissen, was sie an einem guten Arzt haben."
Was haben die Ärzte und Ärztinnen davon?
"Wir lassen es zu, dass Ärzte selber so überfordert und ausgebrannt sind, dass wir hohe Ausfallzeiten wegen Depressionen und Burnout haben. Wir haben hohe Suchterkrankungen, wir haben Suizid unter Ärzten, häufiger als in anderen Berufsgruppen. Das sind Alarmsignale, dass wir Ärzte selber kompetent sein müssen, für uns zu sorgen, wenn wir für andere Menschen sorgen sollen. Und das muss Teil der Ausbildung sein. Wir brauchen Persönlichkeitsbildung. Wir brauchen Feedback darüber, wie wirke ich. Was ist mit der Droge Arzt. Die Worte, die ich zu einem Medikament spreche, haben 30-40 Prozent Wirkmacht über die Wirkung des Medikamentes. Das ist nicht nur Placebo. Das heißt, wenn ich sage: ,Probieren Sie das mal, dann können wir mal gucken, ob das wirkt!‘, habe ich sozusagen schon einen Nocebo-Effekt. Und wenn ich sage: "Lesen Sie auf keinen Fall den Beipackzettel", steht da, alles was schieflaufen kann. Aber es steht nicht der Nutzen, es steht nicht, worauf ich achten kann, damit es wirksamer wird. Wenn jemand verstanden hat, warum er etwas nimmt, dann nimmt er es auch, weil er weiß, das tue ich nicht, um den Arzt zu gefallen, sondern weil der Nutzen den Schaden überwiegt. Die Hälfte der Medikamente, das sind ungefähr 20 Milliarden Euro, die wir in der GKV dafür ausgeben, wird nie genommen. Das ist so verschwenderisch, da ist so viel Unsinn im System. Da glaube ich fest daran, dass man dem Menschen mehr zutrauen kann. Und ich bin gerne Teil dieser Gesundheitskompetenzallianz."
Was muss aus Ihrer Sicht passieren?
"Seit 30 Jahren sagt man, wir brauchen mehr sprechende Medizin. Wenn irgendwas nicht passiert, obwohl es alle wollen, dann muss man sich fragen, wer will das wirklich. Es fehlt, brutal gesagt, das Geschäftsmodell. Es fehlt der finanzielle Anreiz. Salopp gesagt, Nichtstun muss sich wieder lohnen, im Sinne von "nicht röntgen", "kein Katheder schieben", "keine OP anzetteln", sondern zuhören, sprechen, erklären, Lebensziel ändern. Das ist unattraktiv. Das geht auch nicht mit einem Mal Reden. Da gibt es nicht das Zauberwort und alle Menschen verhalten sich plötzlich vernünftig. Das dürfen wir auch nicht erwarten. Es ist zäh, aber des-wegen habe ich einen großen Respekt vor den Kollegen, die sich an den uralten ärztlichen Ethos halten, dass das genau der Kern unserer Aufgabe ist: Menschen zu führen, Menschen zu begleiten, Menschen zu bilden. Und eben auch emotional nicht alleine zu lassen, wenn das was sie haben, nicht heilbar ist. Wir werden erzogen im Spirit eines Einzelkämpfers, der irgendwie mit seiner Arzttasche rausgeht und heroische Dinge tut. Das war früher mal so. Die Zukunft der Medizin ist teamorientiert, die ist weiblich und die ist vor allem kommunikativ und so muss auch die Ausbildung sein.
Wir sind in Deutschland Jahrzehnte hinterher bei dem Thema Delegation. Wir sind sehr schlecht darin, anzuerkennen, dass es andere Gesundheitsberufe gibt, die auch was können. Der Gap zwischen Ärzteschaft und Pflegeberufen und auch den therapeutischen Berufen ist unverantwortlich groß. Die Ärzte haben immer gut für sich gesorgt. Aber es ist unglaublich dumm, nur für sich zu sorgen, statt zu kapieren, was mache ich denn ohne die ganzen anderen Gesundheitsberufe. Da kann ich noch so tolle personalisierte Medizin machen, wenn kein Personal da ist, das kompetent eine Infusion ran hängt, da nutzt mir auch das Medikament da drin nix.
Also, mein Appell an die Ärzteschaft wäre, erklärt Euch öffentlich solidarisch mit den Berufen, die gerade wirklich ums Überleben kämpfen. Das sind die Pflege, wo 50.000 bis 100.000 Leute heute schon fehlen. Wo sollen diese alle herkommen? Was war denn die erste Frage, wenn ich Nachtdienst hatte? Nicht, wer ist im Hintergrund. Da musste ich mich hüten, da anzurufen. Die wichtigste Frage war: Welche Schwester ist mit mir im Dienst. Wenn die fit war, wenn die kompetent war, wenn ich die nicht mit meinem arroganten ,Ich weiß das schon alles, ich habe 5 Jahre studiert‘-Gehabe frustriert hatte, dann war das ein gutes Arbeiten. Und da müssen wir anknüpfen, dass wir sagen: Warum ist die Ausbildung komplett getrennt? Warum gibt es nicht eine einzige Veranstaltung bislang, wo Ärzte und Pflegekräfte gemein-sam etwas lernen, zum Beispiel über Kommunikation im Team, zum Beispiel über Fehlervermeidung, zum Beispiel über Patientensicherheit? Das ist immer ein Teamthema: Wer hat Bakterien an der Hand? Wer ist unsteril? Wenn ich mich traue, das jemandem zu sagen, obwohl er ranghöher ist, dann geht es den Patienten gut. Aus der Sicht des Patienten ist eine gute Schwester manchmal besser als ein schlechter Arzt."
Und jetzt?
"Ich wäre sehr froh, wenn wir in zehn Jahren zurückschauen und sagen: Mensch, wisst Ihr noch, damals dachte man, das schaffen wir nie und wir haben jetzt ein nationales Gesundheitsportal. Wir haben eine Veränderung in der Ausbildungsrichtlinie. Wir haben Programme, wo Ärzte fit gemacht werden, um in Schulen, in kleinen Unterrichtseinheiten - dafür braucht man nicht gleich ein Schulfach, es reicht wenn man Projektwochen macht. Jeder niedergelassene Gynäkologe kann doch mal in eine pubertierende Klasse gehen, und etwas über Verhütung erzählen. Dem höre ich doch ganz anders zu, wenn er praxisnah berichtet als irgendeinem Biologielehrer, der rot wird, wenn es um Schamlippen geht. Also, ich kann die Kollegen nur auffordern: Nutzt Euren Wissensvorsprung, nutzt Eure Kompetenz, nutzt die Tatsache, dass wir Ärzte zu den privilegiertesten Berufsgruppen in diesem ganzen Land gehören. Und nehmt Eure Verantwortung an!"