Integrative Notfallversorgung aus ärztlicher Sicht – Konzeptpapier von KBV und Marburger Bund
Seit Jahren werden in Deutschland steigende Patientenzahlen in der Notfallversorgung registriert. Dies ist kein alleiniges Problem des deutschen Gesundheitswesens mit seinen spezifischen Versorgungsstrukturen. In nahezu allen Ländern der OECD ist eine ähnliche Tendenz zu verzeichnen. Die Gründe sind vielschichtig und erfordern eine differenzierte Betrachtung. Der Marburger Bund (MB) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) haben die Entwicklung zum Anlass genommen, ein Konzept zur Reform der Notfallversorgung aus ärztlicher Perspektive zu erarbeiten, das Wege zu einer Neuordnung aufzeigt. Beide Organisationen sind der festen Überzeugung, dass durch eine veränderte Rahmensetzung die derzeitige Versorgung in Deutschland weiter optimiert werden kann. Die Notfallversorgung muss aus der Patientenperspektive gedacht werden. Die medizinische Entscheidungshoheit über die jeweils angemessene Notfallversorgung muss in die Verantwortung der Ärzteschaft zurückgeführt werden.
Die Zusammenarbeit zwischen dem ambulanten und stationären Notfall-Bereich hat sich in vielen Modellprojekten und regionalen Kooperationen als geeignete Struktur in der Notfallversorgung bewährt. Die positiven Ansätze und Erfahrungen sollen nun perspektivisch flächendeckend in Deutschland eingeführt und umgesetzt werden. Dies erfordert regionalen Gestaltungsspielraum. In Anbetracht der steigenden Anzahl und der Unterschiedlichkeit von Notfallpatienten hinsichtlich der Dringlichkeit als auch der Behandlungserfordernisse ist die Zusammenarbeit aller maßgeblichen Beteiligten notwendig. Zu den Beteiligten zählen insbesondere neben den Krankenhaus- und Vertragsärzten, Krankenhäusern und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) auch der Rettungsdienst sowie die Rettungsleitstellen. Wesentlich ist die Sicherstellung des sich an die Notfallversorgung anschließenden Versorgungsangebots sowohl in der stationären als auch der ambulanten Versorgung. Hierzu gehört auch die Sicherstellung erforderlicher vertragsärztlicher Behandlungstermine.
Entscheidende Ansatzpunkte sind:
- Zentrierung der Strukturen durch Einrichtung gemeinsamer medizinischer Anlaufstellen durch die Vertrags-und Krankenhausärzteschaft grundsätzlich am Krankenhaus
- Koordinierung der Behandlung durch Vernetzung beider Strukturen auch IT-technisch
- Ersteinschätzung an allen primären Anlaufstellen basierend auf einem einheitlichen System mit medizinisch fachlich geschultem Personal
- Vernetzung aller telefonischen Anlaufstellen
- Angebot der Koordination der über die unmittelbare Notfallbehandlung hinausgehenden, weiteren erforderlichen Versorgung.
- Sicherstellung der erforderlichen Teilnahme am vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst.
1. Notfall-Patienten in der für sie passenden Versorgungsebene bedarfsentsprechend behandeln
Die vorhandenen Formen der Notfallversorgung spiegeln die große Bandbreite der medizinischen Notfälle wider. Diese reichen von lebensbedrohlichen Vorfällen, die eine unmittelbare intensivmedizinische Versorgung benötigen (z.B. Herzinfarkte, Schlaganfälle usw.), zu ernsthaften oder sehr schmerzhaften Ereignissen, die einer umgehenden Behandlung bedürfen (Traumata, Knochenbrüche, Schnittwunden, Verbrennungen, Koliken usw.) oder aber auch Erkrankungen bzw. Beratungsanlässe, die üblicherweise ohne die besonderen Strukturen einer spezifischen Notfallversorgung beispielsweise in einer Vertragsarztpraxis zu regulären Öffnungszeiten behandelt werden könnten (z.B. grippale Infekte, seit mehreren Tagen oder Wochen bestehende medizinische Probleme usw.).
Im Rahmen der Notfallversorgung stehen im deutschen Gesundheitssystem mehrere, zum Teil parallele, allerdings nicht ausreichend aufeinander abgestimmte Versorgungsstrukturen zur Verfügung, zu denen Patienten Zugang haben.
Dies sind heute: Der klassische Rettungsdienst, die stationäre Notfallversorgung, die ambulante Versorgung zu regulären Sprechstundenzeiten in der Vertragsarztpraxis, außerhalb der Sprechstundenzeiten durch Hausbesuchsdienste bzw. Fahrdienste, durch Versorgung in der Bereitschaftsdienstpraxis und an stationären Einrichtungen.
Da der Übergang zwischen den Notfall-Arten häufig fließend ist, muss das Versorgungsziel sein, Notfall-Patienten zukünftig bedarfsentsprechend ohne Umwege in der für sie passenden Versorgungsebene zu behandeln. Dies kann am besten erreicht werden, indem die Ersteinschätzung der Patienten an allen Anlaufstellen der Notfallversorgung einheitlich und standardisiert ggf. auch telefonisch erfolgt. Hierzu müssen gemeinsame medizinische Anlaufstellen von Krankenhaus, KV, Krankenhaus- und Vertragsärzteschaft eingerichtet werden, die unter qualifizierter ärztlicher Leitung stehen.
Die Ersteinschätzung soll einem mehrdimensionalen , möglichst EDV-gestütztem gestuften Schema folgen und damit in eine klare Empfehlung der geeigneten Versorgungsebene münden. Dringlichkeit, medizinische Notwendigkeit oder Schwere der Erkrankungen sind dabei wichtige Kriterien, die zukünftig über die adäquate Versorgungsebene entscheiden sollen. Wirtschaftliche Interessen müssen dabei ebenso in den Hintergrund treten wie Wünsche einzelner Patienten, die über die medizinisch indizierte Notfallbehandlung hinausgehen.
Die Einbeziehung des Rettungsdienstes ist ein wesentlicher Faktor für das Gelingen einer integrativen Notfallversorgung. Die Vernetzung zwischen den Rufnummern 112 und 116117 mit einer klaren Regelung zu Übergabepunkten und Schnittstellen (z.B. Quereinstiegsnummern) stellt einen weiteren Meilenstein dar, um im Patienteninteresse die geeignete Versorgungsform schnellstmöglich zu identifizieren. Dabei soll das einheitliche System der standardisierten medizinischen Ersteinschätzung ebenso zum Tragen kommen.
Durch die Kombination eines Systems einer standardisierten Ersteinschätzung mit Vernetzung von Bereitschaftsdienst- und Rettungsdienstnummern können Patienten in die für sie geeignete Versorgungsform geleitet werden. Durch eine Rund-um-die Uhr-Erreichbarkeit der Bereitschaftsdienstnummer 116117 mit optionaler initialer medizinischer Beratung kann darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen werden, Patienten kontinuierlich einen Ansprechpartner in Notsituationen anzubieten.
Maßnahmen:
- Ausweitung der Erreichbarkeit der deutschlandweiten Bereitschaftsdienstnummer 116117 auch tagsüber als originäre Nummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst
- Enge Quervernetzung der 112 mit der 116117, medizinische Ausrichtung der telefonischen Ersteinschätzung
- Entwicklung und Einrichtung von Instrumenten und Strukturen zur Ersteinschätzung der Dringlichkeit und der erforderlichen Versorgungsform auf den Ebenen des telefonischen und physischen Erstkontaktes und in der (ambulanten) lokalen Notfallversorgung; Durchführung durch geeignete Fachkräfte
- Erprobung der telefonischen Beratung im Rahmen der Bereitschaftsdienstnummer 116117 durch speziell fortgebildete Ärzte in enger Abstimmung mit den Ärztekammern.
2. Die Integration von ambulanter und stationärer Notfallversorgung vorantreiben
Die Notfallversorgung ist aufgrund ihrer hohen Volatilität der Inanspruchnahme eine ressourcenintensive Form der Versorgung. Dies betrifft insbesondere die Vorhaltung qualifizierter Fachkräfte an dafür vorgesehenen, gut ausgestatteten Standorten. Es soll daher auf eine medizinisch adäquate Fokussierung der im oder am Krankenhaus einzurichtenden gemeinsame medizinische Anlaufstellen hingewirkt werden. Die Integration von stationärer und ambulanter Notfallversorgung fördert die Durchlässigkeit zwischen den Bereichen weiter. Dabei kommt der Interoperabilität und dem Datentransfer in Hinblick auf Befunddokumentation und Behandlungsablauf im Sinn einer gemeinsamen Schnittstelle perspektivisch eine entscheidende Rolle zu. Kooperationen zwischen KV-Bereitschaftspraxis und Krankenhäusern, z.B. im Bereich des Labors oder der Röntgendiagnostik, sollten regelhaft umgesetzt werden.
Maßnahmen:
- Regionale Etablierung von gemeinsamen medizinischen Anlaufstellen. Hierbei müssen für die weitere erforderliche Versorgung der Patienten regionale Besonderheiten und Bereitschaftszeiten genauso berücksichtigt werden wie die regionalen Möglichkeiten zur fachspezifischen Versorgung (z.B. Frakturen, weitergehende Diagnostik).
- Schaffung der Möglichkeit zur Ausweitung des ambulanten Notdienstes im KV Bereich auch tagsüber, sofern ein regionaler Bedarf besteht.
- Einführung von sektorenübergreifendem Notfall-Datenmanagement, Datenerfassung und Datendokumentation u.a. mit der Differenzierung nach allgemeinen Notfalldaten (Allergien, Implantate, Medikamente) und Daten aus einer akuten Notfallversorgung (z.B. Seite der Fraktur, Art der Fraktur, etc.)
- Entwicklung von Informationssystemen, die die aktuelle Belegungssituation in Echtzeit darstellen
- IT-technische Vernetzung aller Akteure incl. der Etablierung einer sicheren Kommunikationslösung zum Austausch medizinischer Informationen.
- Sicherstellung des sich an die Notfallversorgung anschließenden Versorgungsangebots sowohl in der stationären als auch der ambulanten Versorgung. Hierzu gehört auch die Sicherstellung erforderlicher vertragsärztlicher Behandlungstermine.
3. Regionalität der Versorgung unter Etablierung eines einheitlichen Rahmens stärken
Die Grundsätze der regionalen Handlungsfreiheit sind gezielt dort auszubauen, wo Besonderheiten wie z.B. die Bevölkerungsdichte und -struktur, Erreichbarkeiten und die Angebotsstruktur dies erforderlich machen. Der etablierte Rechtsrahmen aus Landes- und Kommunalrecht ist unter Beteiligung der Vertrags- und Krankenhausärzteschaft hierfür gezielt weiterzuentwickeln. Dies betrifft insbesondere die Ausgestaltungsfreiheit der vor Ort zu findenden Versorgungslösungen. Bundesweite einheitliche und standardisierte Rahmenbedingungen sollen die Umsetzung erleichtern und den Patienten ermöglichen, sich besser in der Vielzahl der Versorgungsangebote in der gesamten Bundesrepublik zurechtzufinden.
4. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zur Notfallversorgung stärken
Die Kenntnisse der Bevölkerung um das Verhalten im akuten Erkrankungsfalle und um die Notfallstrukturen sind zu verbessern. Dies betrifft sowohl die medizinischen Aspekte als auch Kenntnisse um die Struktur der Notfallversorgung („wo wende ich mich am besten hin?“). Aufklärungskampagnen sollten auf eine Stärkung der Patientenkompetenz abzielen.
Maßnahmen:
- Entwicklung von neuen Materialien sowie Zugangs- und Kommunikationswegen (insbesondere Internet/App)
- Schaffung eines mehrsprachigen Angebots und barrierefreien Anwendungen
- Ausweitung der Gesundheitsedukation auf weitere Bereiche der kommunalen Daseinsvorsorge, z.B. Schulen
5. Begleitung und Weiterentwicklung der integrierten Notfallversorgung durch Modellprojekte
Nicht alle Reformvorschläge können unmittelbar, flächendeckend umgesetzt werden. Deswegen ist die Möglichkeit der modellhaften Erprobung z.B. in einem Bundesland zu nutzen. Sinnvoll ist die gezielte Förderung der Umsetzung und Evaluation (z.B. im Rahmen des Innovationsfonds).
6. Finanzierung
Die Neuausrichtung der Notfallversorgung soll zu einer integrativen und damit passgenaueren und qualitativ besseren Versorgung führen. Hierzu sind der Aufbau und Betrieb neuer Strukturen notwendig, die eine adäquate zusätzliche Finanzierung erfordern.
7. Notwendige Unterstützung durch normgebende Institutionen
Es ist absehbar, dass für die Fortentwicklung der Notfallversorgung der gesetzliche und untergesetzliche Ordnungsrahmen angepasst werden muss.
Maßnahmen (beispielhaft):
- SGB V: 24/7-Betrieb von KV-Bereitschaftspraxen durch KVen
- Vertragsrecht: dreiseitige Verträge zur Errichtung gemeinsamer Anlaufstellen
- Berufsrecht: Anpassung der Regelungen zur Fernbehandlung
- Schaffung der erforderlichen Rechtsgrundlagen zur Entwicklung und zur verbindlichen Einführung eines bundeseinheitlichen, IT-gestützten Ersteinschätzungs-Systems.
- Landesrecht: Ausgestaltung der Rettungsdienstgesetze, Planung der Notfallversorgung
- Haftungsrecht: Überprüfung und Anpassung des bestehenden Rechtsrahmens im Hinblick auf die Haftungssituation der in der Notfallversorgung tätigen Fachkräfte (vor Ort als auch z.B. in Telefonzentralen) mit dem Ziel einer erforderlichen und ausreichenden haftungsrechtlichen Absicherung.
Berlin, September 2017