Es gibt bereits Krankenkassen, die ihre Versicherten für ein bestimmtes Gesundheitsverhalten oder das Teilen persönlicher Daten mit finanziellen Vergünstigen belohnen. Wie bewerten Sie das?
Diese Tendenzen zum, wie es neudeutsch so schön heißt, „nudging“ (engl. „Anstupsen“) müssen wir in all ihrer Ambivalenz erst einmal wahrnehmen. Wer hätte grundsätzlich etwas dagegen, dass Versicherte zu einem gesundheitsbewussten Verhalten motiviert werden?
Was mich beunruhigt, ist eine undifferenzierte Standardisierung dessen, was zur Gesundheit beiträgt. Wenn ich am Ende eines Tages nur 4.000 statt der empfohlenen 10.000 Schritte gelaufen bin, mich aber mit einem mir lieben Menschen gestritten habe, dann ist es für mein Wohlbefinden wahrscheinlich sinnvoller, nicht noch die 6.000 Schritte zu laufen, sondern mich mit meinem Freund auszusprechen. Das ist wichtiger als dass mir die Smartwatch jeden Morgen sagt „Du hast gestern von drei Fitness-Kreisen nur einen geschafft, streng‘ dich heute mehr an.“ Viele Leute lassen sich davon jedoch prägen. Ich rate zur Vorsicht gegenüber einer solchen undifferenzierten Standardisierung und Normalisierung, die zur Norm wird.
Ein anderer Aspekt, den ich kritisch sehe, ist, dass solche Angebote denjenigen bevorzugen, der sie nutzt und denjenigen benachteiligen, der sie nicht nutzt. Das gilt zumindest für die private Krankenversicherung (PKV), die nur das verteilen kann, was sie bei den Kunden eingenommen hat.
Deshalb ist das Bereitstellen etwa eines Fitnesstrackers in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anders zu bewerten ist als in der PKV. Die gesetzliche Krankenkasse bezahlt solche Zusatzangebote aus einem separaten Topf, nicht aus dem allgemeinen GKV-Topf, aus dem jeder Versicherte entsprechend seiner Bedürfnisse und der medizinischen Angemessenheit versorgt wird. Dieses Element unserer klassischen GKV gewinnt im Zeitalter von Big Data eine neue Bedeutung: Wenn die Mustererkennung aus Daten es möglich macht, sehr präzise Gesundheitsstatus zu erkennen, ist es gut zu wissen, dass es einen Bereich des medizinisch Notwendigen gibt, der unabhängig von irgendwelchen Voraussetzungen vergütet wird. Ich glaube, das bekommt für eine Gesellschaft einen befriedenden Charakter.
Angenommen, die Politik entscheidet sich für eine stärkere Steuerung innerhalb des Systems, um dieses langfristig bezahlbar zu machen. Wo sollte diese Steuerung ansetzen: Auf der Angebotsseite – also etwa durch Leistungseinschränkungen – oder auf der Nachfrageseite, also bei den Versicherten?
Ich bin skeptisch was so generelle Formeln angeht. Alle, die im System sind, haben grundsätzlich erst einmal berechtigte Interessen. Aber genauso grundsätzlich müssen diese Interessen begrenzt werden. Der politisch-ökonomisch-sozial faire Ausgleich ist ja quasi tägliche Aufgabe im Gesundheitswesen. Aber, um noch einmal zurückzukommen auf unsere Big-Data-Stellungnahme: Eine gute Datengrundlage eröffnet uns die Chance, den politischen Interessen der verschiedenen Gruppen die entsprechenden empirischen Daten gegenüberzustellen. So lässt sich herausfinden, ob eine Gruppe vielleicht nur die besseren Lobbyisten hat oder ob es tatsächlich einen guten Grund gibt, dort zu investieren, wo sie es möchte.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir qualitativ hochrangige Daten haben, die schnell verfügbar sind: damit wir den Status des Systems als Ganzes beurteilen können, sowohl was Public-Health-Fragestellungen angeht als auch abgeleitet für jeden Einzelnen. Das ist eine riesige Chance, die sich mit der Digitalisierung verbindet.