Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung
Rede des KBV-Vorstandsvorsitzenden am 8. Dezember 2023
Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Petra, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist Halbzeit. Genau heute, am 8. Dezember, beginnt die zweite Hälfte der Regierungszeit der Ampel-Koalition. Manch einer fragt sich, ob sie bis zum Ende der Legislatur noch durchhält. Mancher tröstet sich mit der Fußballweißheit, dass die zweite Halbzeit immer schneller rum ist.
Wenn die erste Hälfte eines Fußballspiels nicht so gut gelaufen ist, dann singen die Fans im Stadion zur Unterstützung ihrer Mannschaft oft das Lied „You’ll never walk alone“ – ein Titel, den Olaf Scholz gerne zitiert, zuletzt in seiner Regierungserklärung am 28. November anlässlich der Haushaltskrise. Für den einen oder anderen Koalitionspartner klingt dieser Ausruf aus dem Mund des Kanzlers möglicherweise eher nach einer Drohung als einer Ermunterung.
Der Titel „You’ll never walk alone“ stammt aus dem Jahr 1963 von der Band Gerry and the Pacemakers. Was viele aber nicht wissen: Tatsächlich ist der Song noch älter, er soll ursprünglich aus einem Broadway-Musical aus den Vierzigerjahren stammen. Dieses Musical erzählt die Geschichte eines Schaustellers, der aus finanzieller Not einen Raubüberfall begeht, um seine Familie zu ernähren und dabei stirbt. Ich bezweifle, dass dem Kanzler diese Geschichte des Songs bewusst war, als er ihn erneut zum Motto in der aktuellen Finanz- und Regierungskrise erklärte. Vielleicht konnte er sich aber auch nur nicht mehr daran erinnern. Passend daran ist allerdings, dass auch wir dramatische Zeiten durchleben, insbesondere in der Gesundheitspolitik.
Die Bilanz der Bundesregierung ist ernüchternd. Tatsache ist, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse nicht nur der Klima- und Transformationsfonds der Regierung mit seinen 60 Milliarden Euro blockiert ist, sondern auch der 200 Milliarden Euro schwere Wirtschaftsstabilisierungsfonds massiv betroffen ist. Der seinerzeit von Kanzler Scholz vollmundig als „Doppel-Wumms“ bezeichnete Fonds ist nun mit einem lautem Einzel-Rumms zum Stillstand gekommen. Bundesregierung und Parlament müssen jetzt nächtelang nachsitzen. Es bedarf eines Nachtragshaushalts für 2023. Und auch beim Haushaltsplan für 2024 gibt es „erheblichen Konsolidierungsbedarf“, wie Finanzminister Lindner es formuliert hat. Bislang heißt es, der Einzeletat des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) sei nicht betroffen, gleichwohl muss das jetzt fehlende Geld kompensiert werden. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass die berühmten Ressortabstimmungen über Gesetzesvorhaben des BMG sicherlich nicht einfacher werden.
Klar ist aber auch: Die ärztliche Vergütung ist kein Treiber der Ausgabenentwicklung – im Gegenteil! Die Ausgaben für ärztliche Behandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung sind im ersten Halbjahr 2023 um gerade einmal ein Prozent gestiegen – das ist der geringste Zuwachs aller Leistungsbereiche. Bei den Krankenhäusern waren es hingegen sieben Prozent Ausgabensteigerung. Die Inflationsrate lag im gleichen Zeitraum immer noch bei 7,4 Prozent.
Karl Lauterbach hat sich in dem Gespräch mit dem KBV-Vorstand Anfang November gerühmt, er habe die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stabilisiert, weshalb beispielsweise die Entbudgetierung weiterer ärztlicher Fachgruppen denkbar sei. Die Entbudgetierung der Hausärztinnen und Hausärzte soll zeitnah erfolgen, hier haben wir die feste Zusage über einen entsprechenden Gesetzentwurf des BMG. Mit den Ankündigungen von Herrn Lauterbach ist es aber immer das Gleiche: Man muss auf die Erfüllung der Versprechen oft lange oder vergebens warten. Auch das Schreiben des Ministers vom 1. Dezember 2023, in dem er auf unser Gespräch Bezug nimmt, lässt nichts Gutes ahnen. Die Kinder warten diesen Monat aufs Christkind – bei dem weiß man immerhin, dass es am 24. Dezember kommt. Die Ärztinnen, Ärzte, Psychotherepeutinnen und Psychotherapeuten fühlen sich beim Warten auf die Erfüllung der Versprechen von Karl Lauterbach eher wie bei einer Aufführung des absurden Theaterstücks von Samuel Beckett „Warten auf Godot“ – der kam bekanntlich nie …
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie fragen sich vielleicht, was es mit diesen überdimensionalen Stiefeln auf sich hat, die Sie hier im Saal sehen. Sie alle kennen den Brauch, wonach man am Nikolausabend einen Schuh vor die Tür stellt, damit dieser über Nacht gefüllt werde. Morgens blickt man dann auf einen schönen und prall gefüllten Stiefel, wie Sie ihn hier sehen. Was aber ist mit dem anderen, der so traurig, leer und heruntergewirtschaftet aussieht? Dieser Stiefel ist unser vertragsärztlicher Stiefel: nichts drin, löchrig und durchgelaufen. Zugegeben, der Vergleich hinkt ein wenig. Denn es geht uns als Vertragsärzte- und -psychotherapeutenschaft ja nicht um eine milde Gabe oder eine Belohnung für gutes Benehmen. Dieser leere Stiefel soll zeigen, dass die schönen Versprechungen, die der Gesundheitsminister im persönlichen Gespräch gerne macht, meistens leere Versprechen sind. Die Leidtragenden werden nicht nur Ärztinnen, Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sein, sondern sehr bald unsere Patientinnen und Patienten, wenn das BMG immer mehr über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheidet, wobei das Haus von Herrn Lauterbach gerne auch mal seine Kompetenzen überschreitet. Dann werden die Grenzen der Rechtsaufsicht dermaßen überdehnt, dass sie zur Fachaufsicht mutiert; ein Beispiel ist die Ersteinschätzungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Notfallversorgung.
Das Vorgehen des BMG verärgert auch manchen Ressortverantwortlichen in den Ländern. Insbesondere bei den Verhandlungen zur Krankenhausreform kann man das beobachten. Es ist schon bemerkenswert, wenn die Konferenz der Gesundheitsminister einen Brandbrief an den Bundesminister schickt, in dem die Landesminister die bisherigen Ergebnisse als „sehr enttäuschend“ bezeichnen und nicht nur eine „ergebnisoffene Aussprache“ anmahnen, sondern bewusst auf eine anschließende gemeinsame Pressekonferenz verzichten.
Das Krankenhaustransparenzgesetz, nach Lauterbachs eigenem Bekunden quasi die erste Stufe der Reform, ist nun, nach einem Mehrheitsvotum des Bundesrates, im Vermittlungsausschuss gelandet. Selbst einige von Lauterbachs Parteikolleginnen und -kollegen haben dafür gestimmt. Das ist schon ein ziemlicher Tritt vors Schienbein, den der Minister nicht einmal mit der Drohung abwenden konnte, dass die Kliniken bereits zugesagte Liquiditätshilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro dann nicht erhalten würden.
Kurzum: Karl Lauterbach ist auf dem besten Weg, es sich nicht nur mit den Vertreterinnen und Vertretern der Praxen, Krankenhäuser und Apotheken zu verscherzen, sondern sogar mit seinen eigenen Amts- und Parteikolleginnen und -kollegen. Dennoch verbreitet er weiterhin Zweckoptimismus – und verschiebt das Zieldatum für den Gesetzentwurf zur Krankenhausreform immer mehr in die Zukunft. Jetziger Stand ist nun Ostern kommenden Jahres. Mal sehen, ob es dabei bleibt.
Ein weiteres leeres Versprechen – siehe Nikolausstiefel – bleibt nach wie vor, die Ambulantisierung innerhalb der Gesundheitsversorgung stärker zu unterstützen. Dabei hat Karl Lauterbach kürzlich bei einer Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes noch gesagt: „Wir haben einen Leerstand der Kliniken von 30 Prozent. Wenn wir das ambulant machen würden, was wir ambulant machen könnten und sollten, dann wäre der Leerstand bei 50 Prozent.“ Auch wenn wir nicht wissen, aus welcher Studie diese Zahlen stammen, ist die Grundaussage richtig. Aber was folgt nun aus dieser Erkenntnis? Das BMG schafft munter neue, wenig durchdachte Möglichkeiten für Krankenhäuser, selbst ambulante Leistungen zu erbringen. Wohlgemerkt für Krankenhäuser, die bereits jetzt nicht mehr in der Lage sind, ihr eigentliches Kerngeschäft vollumfänglich zu erfüllen. Die existierende und noch leistungsfähige Struktur der Praxen scheint der Minister geflissentlich zu ignorieren.
Der Umfang des vom BMG in seinem Verordnungsentwurf festgelegten Katalogs für ambulant erbringbare Leistungen mit einer sektorengleichen Vergütung ist einerseits viel zu gering, um den Prozess substanziell voranzutreiben. Die Abgrenzung der von den Hybrid-DRG umfassten Leistungen ist zudem nicht klar geregelt. Andererseits setzt die sogenannte sektorengleiche Vergütung kaum die notwendigen Anreize zur Ambulantisierung. Die bürokratischen Hürden für Vertragsärzte, an dieser Form der Versorgung teilzunehmen, sind unverändert zu hoch. Dies sind nur unsere grundsätzlichen Kritikpunkte, die wir als KBV in unserer Stellungnahme vorgebracht haben. Einmal mehr wird hier eine Chance vertan. So bleibt die Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag, man wolle die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen fördern, eine hohle Phrase. Immerhin hat Herr Lauterbach uns im November zugesichert, zum Thema Ausgestaltung der Hybrid-DRG im Gespräch bleiben zu wollen. Was er dann nach solchen Gesprächen tatsächlich tut, steht bekanntlich auf einem anderen Blatt, aber warten wir es ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ärztinnen, Ärzte, Psychotherepeutinnen und Psychotherapeuten können Kampagne! Das haben Sie alle in den letzten Monaten eindrucksvoll bewiesen. Das Murren im BMG über die Aktivitäten der Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherepeutinnen und Psychotherapeuten wird zunehmend vernehmbarer. Aber die Vertragsärztinnen und -ärzte, -psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten dürfen nicht nachlassen im Kampf für eine sichere und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung für alle. Noch einmal herzlichen Dank an Sie alle für Ihr Engagement und Ihre Unterstützung!
Derzeit blicken wir mit gespannter Erwartung auf die stetig steigende Kurve der Online-Zeichnungen unserer beim Bundestag eingereichten Petition zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die ambulante Versorgung. Stand heute Morgen sind es 27.000 Unterschriften, die bislang online geleistet wurden. Hinzu kommen all jene, die in Praxen und andernorts auf Papier gesammelt werden – wie viele das sind, wissen wir leider noch nicht.
Deswegen an dieser Stelle noch einmal der herzliche Appell: Egal ob Sie Arzt oder Ärztin, Psychotherapeut oder Psychotherapeutin, Patient oder Patientin oder einfach an einer guten ambulanten Gesundheitsversorgung grundsätzlich interessiert sind – zeichnen Sie bitte diese Petition, falls Sie es noch nicht getan haben! Es zählen nur die Unterschriften, die bis zum 20. Dezember beim Petitionsausschuss des Bundestages eingegangen sind, sei es online oder auf den dafür autorisierten Unterschriftenlisten per E-Mail, Post oder Fax. Und warten Sie bitte nicht bis zur letzten Minute; jede Unterschrift, die wir vor Ablauf der Frist sicher haben, ist wichtig! Alle nötigen Informationen finden Sie auf der Website der KBV unter dem Stichwort „PraxenKollaps“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unsere Praxen hat am 15. November die „unbezahlte Jahreszeit“ begonnen. Dieser Tag ist für die ambulante Versorgung in Deutschland der „Zero Pay Day“. Ab diesem Tag fangen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte statistisch und im Durchschnitt betrachtet an, die meisten ihrer Patientinnen und Patienten gratis zu behandeln. Das liegt daran, dass jede zehnte ärztliche Leistung in unserem System nicht bezahlt wird. Grund hierfür sind die vom Gesetzgeber und den Krankenkassen vorgegebenen Mengenbegrenzungen. Am Ende des Budgets ist aber noch viel Versorgungsbedarf übrig. Trotzdem machen die Praxen bislang weiter, obwohl sie aus wirtschaftlicher Sicht mit Fug und Recht sagen könnten, ohne Vergütung behandeln wir nicht mehr.
Was würde aber passieren, wenn alle Praxen vom 16. November 2023 bis Jahresende ihre Türen schließen würden? Nach Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) müssten rund 125 Millionen Arzt-Patienten-Kontakte entfallen. Vor allem chronisch Kranke und Ältere wären davon betroffen, aber natürlich auch alle anderen. Ich kenne keinen Berufsstand, der auf Dauer bis zu sechs Wochen im Jahr ohne Bezahlung arbeiten würde. „Black Weeks“ mögen im Einzelhandel beliebt sein, im Gesundheitswesen sind sie unethisch! In Kombination mit all den anderen Zumutungen, die die Praxen mittlerweile schultern müssen, ist die logische Konsequenz, die Leistungen der Vergütung anzupassen oder gleich ganz in die vorgezogenen Betriebsferien zu gehen. Man stelle sich einmal vor was in Deutschland los wäre, wenn nur zehn Prozent der Praxen – das wären immerhin schon über 10.000 – mitten in der jetzigen Infektsaison sagen würden „Wir schließen!“?
So weit sind wir davon nicht mehr entfernt. Auch wenn die Politik es nicht wahrhaben will, die Uhr tickt. Erste Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) haben reagiert und ihre Honorarverteilungsmaßstäbe den vorhandenen Mitteln angepasst. Damit setzen sie eigentlich nur den Wunsch der Politik nach einer gedeckelten Vergütung um – denn das Budget soll ja die Leistungsausweitung verhindern. In der Konsequenz wird es absehbar weniger Behandlungstermine geben – nicht um den Versicherten Leistungen vorzuenthalten, sondern um die Versorgung überhaupt noch gewährleisten zu können!
Laut einer großen Umfrage des Zi im Auftrag der KBV unter allen niedergelassenen Haus- und Fachärzten sowie Psychotherapeuten, deren Ergebnisse wir heute früh der Öffentlichkeit vorgestellt haben, fühlen sich fast zwei Drittel der Niedergelassenen durch ihre Arbeit ausgebrannt. 85 Prozent finden ihre Leistungen für Patienten nicht angemessen honoriert. Sechs von zehn tragen sich aufgrund der Rahmenbedingungen mit dem Gedanken, vorzeitig aus der Patientenversorgung auszuscheiden, bei den Ärzten allein sind es sogar sieben von zehn. Und das in einer Zeit, in der wir ohnehin auf eine große Ruhestands- und damit absehbar auch Praxenschließungswelle zusteuern! Die Versorgung in diesem Land wird sich sehr schnell dramatisch und dauerhaft verändern, wenn Politik nicht endlich entsprechend reagiert.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurden in den letzten Wochen weitere Aktionen gestartet, wie zum Beispiel das Mailing-Tool, mit dem Bürgerinnen und Bürger Bundestagsabgeordnete aus ihren Wahlkreisen anschreiben können, um ihrer Sorge um den Erhalt der ambulanten Versorgung Ausdruck zu verleihen. Das sind viele kleine Nadelstiche, die, sofern wir Reaktionen darauf gesehen haben, durchaus wahrgenommen werden. Mittlerweile gibt es gewählte Volksvertreter und -vertreterinnen, die den Handlungsbedarf nicht nur erkennen, sondern ihn auch von der Bundespolitik einfordern. So hat beispielsweise der Landtag von Schleswig-Holstein vor kurzem die Entbudgetierung der gesamten ambulanten Versorgung gefordert, beginnend mit den grundversorgenden Fachgruppen. Natürlich ist die Umsetzung Sache des Bundes, aber immerhin hat Schleswig-Holstein im kommenden Jahr den Vorsitz der Konferenz der Gesundheitsministerinnen und -minister.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist allen klar, dass es nicht nur um eine angemessene Finanzierung aller erbrachten Leistungen geht, sondern auch um die Strukturen und Rahmenbedingungen, um Versorgung überhaupt noch zu ermöglichen. Hier hat das Bundessozialgericht Ende Oktober mit einer Einzelfallentscheidung zur Sozialversicherungspflicht eines Zahnarztes im ärztlichen Bereitschaftsdienst einen Erdrutsch ausgelöst. In vielen Regionen ist der ärztliche Bereitschaftsdienst seither stark beeinträchtigt, was sowohl zulasten der Versorgung als auch der diensttuenden Kolleginnen und Kollegen geht. Wir haben umgehend diverse Gespräche sowohl mit den Zuständigen im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) als auch im BMG geführt. In Letzterem hat man grundsätzlich Verständnis, fühlt sich aber nicht zuständig. Das BMAS wiederum sieht keine Handlungsnotwendigkeit. Offensichtlich sieht das BMAS seine Aufgabe eher im Ausgeben von Steuergeldern für Sozialleistungen – der Haushalt des BMAS umfasst immerhin fast ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts – als in der sinnvollen Gestaltung von Arbeitsmöglichkeiten für Menschen, die arbeiten wollen und damit einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten.
Beide Ministerien spielen auf Zeit und wollen nun erst einmal die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, bevor sie gegebenenfalls gesetzliche Maßnahmen in die Wege leiten. Wir fordern, alle im ärztlichen Bereitschaftsdienst tätigen Ärzinnen und Ärzte, die keine Vertragsärztinnen oder -ärzte sind, rechtlich mit Notärztinnen und -ärzten gleichzustellen (§ 23c Absatz 2 SGB IV) und von der Sozialversicherungspflicht zu befreien. Die gesundheitspolitischen Sprecher der CDU-Landtagsfraktionen der Bundesländer Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Saarland und Schleswig-Holstein haben am 1. Dezember in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Rettung des Bereitschaftsdienstsystems in den Ländern ebenfalls dazu aufgerufen, die Sozialversicherungspflicht für die sogenannten Poolärztinnen und -ärzte aufzuheben.
Geschieht das nicht, ist zu erwarten, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen, die von dieser Sozialversicherungspflicht betroffen wären, ihren Dienst quittieren – und wir sprechen hier von mehreren Zehntausend Nichtvertragsärztinnen und -ärzten, die den Bereitschaftsdienst bis dato unterstützten. Auf die KVen wiederum käme ein derart hoher Verwaltungskosten- und Organisationsaufwand zu, dass dieser nicht zu stemmen wäre. In diesem Fall bliebe uns als KV-System nichts anderes übrig, als den Bereitschaftsdienst auf ein vertretbares Maß gesundzuschrumpfen.
Losgelöst von der Frage der Sozialversicherungspflicht hat meines Erachtens die Anspruchshaltung gegenüber dem Notdienst ein sehr ungesundes Maß erreicht. Grund ist das Hirngespinst einer 24/7-Vollversorgung, auf die alle Versicherten Anspruch hätten. Das ist schlicht nicht der Fall. Der Paragraf 12 SGB V – Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten – gilt auch und besonders im Notdienst. Wenn der Notdienst dann von Versicherten, und leider auch von vielen Nichtversicherten, aus Gründen der Bequemlichkeit oder eines maßlosen Anspruchsdenkens ohne Not in Anspruch genommen wird, ist das eine Zumutung für Kolleginnen und Kollegen, die diesen Dienst neben ihrer normalen Tätigkeit zusätzlich leisten und auch gegenüber den Menschen, die wirklich Notfälle sind. Der Notdienst ist ausschließlich für Notfälle und die sind medizinisch definiert!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese mühselige Debatte zeigt meines Erachtens einmal mehr, dass wir nicht nur die Honorarverteilung, sondern die ganze Thematik des Leistungsangebots von KV-Seite einer grundlegenden Revision unterziehen sollten. Es gibt eine wachsende Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Leistungsanspruch – alles, sofort, zu jeder Zeit – und dem, was machbar und realistisch ist. Und diesem Affen geben manche Politikerinnen und Politiker, Kassenvertreterinnen und -vertreter und selbsternannte Patientenschützerinnen und -schützer auch noch Zucker. Nicht zuletzt die Beanstandung der G-BA-Richtlinie zur Ersteinschätzung im Rahmen der Notfallversorgung hat gezeigt, dass eine Steuerung der Inanspruchnahme politisch nicht gewünscht ist, beziehungsweis nicht gewagt wird. Das könnte ja möglicherweise Wählerstimmen kosten. Wobei ich persönlich gar nicht sicher bin, ob das Verständnis bei den Menschen dafür nicht größer wäre, als Politik gemeinhin annimmt. Schließlich will niemand mit Brustschmerzen in der Notaufnahme warten, weil vor ihm jemand sitzt, der seit drei Wochen „Rücken hat“. Hier bedarf es eines Rendezvous mit der Realität, und zwar auf allen Seiten.
Das gilt auch für andere Forderungen, die von verschiedenen Absendern an uns herangetragen werden, von der Verpflichtung zur Videosprechstunde – was meines Erachtens nur Menschen fordern können, die keine Medizinerinnen oder Mediziner sind – bis hin zur Barrierefreiheit einer jeden Arztpraxis. Natürlich kann man sich das wünschen, aber was machen Sie denn, wenn Ihre Praxis im dritten Stock eines Altbaus liegt? Und wenn wir von echter Barrierefreiheit für jegliche Art von Einschränkungen sprechen, ist es mit dem Einbau eines Aufzugs und schwellenloser Türen noch lange nicht getan. Und wer soll die Kosten dafür übernehmen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, ob wir auf den gemeinsamen Brandbrief von Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV), Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV) und der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) an Bundeskanzler Olaf Scholz von Ende Oktober noch eine Antwort bekommen. Der Kanzler hat wahrscheinlich gerade genug damit zu tun, den Regierungshaushalt und seine Koalition zu retten. Immerhin: Die FDP scheint sich wieder etwas auf ihre Kernmarke zu besinnen. Sie hat in einem Positionspapier zur Trägervielfalt in der ambulanten Versorgung einen erheblichen Reformbedarf hinsichtlich der Rahmenbedingungen für die freiberufliche Tätigkeit von Ärzten und Zahnärzten festgestellt sowie „eine deutliche Stärkung der Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung“ gefordert. Das ist jedoch erst einmal etwas für die Galerie, schöne Worte allein nützen nichts, die hören wir ja schon von Herrn Lauterbach zur Genüge.
Wenn es allerdings weiter bei Ankündigungen bleibt und die Versprechen so leer bleiben wie unser vertragsärztlicher Nikolausstiefel, dann wird im kommenden Jahr nicht nur der ärztliche Bereitschaftsdienst in seiner jetzigen Form zur Disposition stehen, sondern die ambulante Versorgung insgesamt. Dann wird der Spruch des Kanzlers „You’ll never walk alone“ wohl durch Lou Reeds „Have a walk on the wild side” abgelöst.
Ich hoffe, dass der Bundesgesundheitsminister die Zeit vor und zwischen den Feiertagen nicht nur zur Lektüre von Studien über Künstliche Intelligenz und Cannabiskonsum nutzt, sondern sich auf seine Kernaufgabe besinnt: den Erhalt und die Zukunft der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen und euch trotz allem eine hoffentlich ruhige und erbauliche Advents- und Weihnachtszeit. Kommen Sie gut ins neue Jahr.
(Es gilt das gesprochene Wort.)