Logo-KBV

KBV Hauptnavigationen:

Sie befinden sich:

 
Stand 08.12.2023

Reden

Bericht von Dr. Sibylle Steiner an die Vertreterversammlung

Rede des KBV-Vorstandsmitglieds am 8. Dezember 2023

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Petra, liebe Kolleginnen und Kollegen,

oder – wie Bundesminister Lauterbach uns bezeichnen würde – liebe Bedenkenträgerinnen und Bedenkenträger! Denn ja: So werden wir politisch gerne verunglimpft.

Was die Kritikerinnen und Kritiker dabei vergessen: Im Gegensatz zum Eid der Bundestagsabgeordneten ist unser Eid als Ärztinnen und Ärzte spezifischer. Keine Sorge, ich werde weder den Hippokratischen Eid noch seine moderne Form – das Genfer Gelöbnis – in voller Länge vortragen, ein paar Punkte aber herausgreifen: Dabei geht es um den Respekt vor der Autonomie und der Würde der Patientinnen und Patienten und darum, die uns anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod einer Patientin oder eines Patienten hinaus zu wahren. Es geht auch darum, unser medizinisches Wissen zum Wohle der Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu teilen. Diese Verpflichtungen sind unsere Richtschnur und unser Kompass. Diese besondere Verantwortung dürfen wir am Verhandlungstisch und in politischen Diskussionen zum Beispiel um die Digitalisierung niemals vergessen. So manch anderer vergisst das gerne, wir aber vergessen das nicht.

Denken wir uns kurz in das Jahr 2035 und übertragen diese ärztlichen Verpflichtungen in eine postmoderne Welt der Digitalisierung. Ein solches Zukunfts-Szenario würde bedeuten: Selbstbestimmte Patientinnen und Patienten verfügen gleichermaßen über Gesundheits- und Digitalkompetenz; digitale Anwendungen helfen ihnen, ihre Gesundheitskompetenz zu steigern und zu erhalten – altersgerecht und inklusiv. Die gesamte „Patient Journey“ vom Symptom bis zum Praxisbesuch und auch darüber hinaus läuft komplett digital-intelligent unterstützt. Alle bürokratischen Routine-Aufgaben in den Praxen erledigen zuverlässig KI-gestützte Programme. Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können sich auf ihre medizinischen Aufgaben konzentrieren. Auch die interkollegiale Kommunikation und der Austausch behandlungsrelevanter Daten läuft im besten Sinne: digitalisiert und ärztlich gesteuert. Und ausdrücklich nicht in Form einer krankenkassengesteuerten Einmischung in originär ärztliche und psychotherapeutische Aufgaben. Check-In-Terminals, eID, Spracherkennung und Sprachsteuerung, bis hin zu Augmented Reality erleichtern ebenso selbstverständlich den Praxisalltag wie ein optimal auf die Telematikinfrastruktur (TI) abgestimmtes Praxisverwaltungssystem.

Machen Sie sich keine Sorgen: Ich bin keineswegs vorweihnachtlicher Wunschträumerei verfallen. Die Welt in den Praxen unserer Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sieht leider ganz anders aus: Bei Lichte betrachtet ist das Praxisverwaltungssystem (PVS) einer der – wenn nicht sogar der – Schlüssel zur Digitalisierung in den Praxen und damit im Gesundheitswesen insgesamt. Doch wir erfahren schmerzhaft: Politik, Sachverständigen und anderen Mit-Entscheidern ist überhaupt nicht bekannt, wie die PVS-Realität in den Praxen wirklich aussieht. Aktuell sind viele der PVS so hinderlich wie die für ihre Strenge berüchtigten Türsteher vor In-Clubs. Nicht dass Sie denken, ich hätte diesbezüglich persönliche Erfahrungen...

Bei einer Befragung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) unter Praxen in Berlin hatten nur knapp über fünf Prozent keine Probleme mit ihrem PVS. Fast die Hälfte (44 Prozent) hingegen berichtete über wöchentliche oder monatliche Probleme. Für eine funktionierende Digitalisierung – und die wollen vor allem wir angeblichen Bedenkenträgerinnen und Bedenkenträger – muss das PVS vom Türsteher zum Türöffner werden! Gleichzeitig darf die Bundesregierung nicht Tür und Tor für unbefugte Datenzugriffe öffnen. Datenschutz und Datensicherheit einerseits und eine versorgungsorientierte Digitalisierung andererseits dürfen eben keinen Gegensatz darstellen, sondern müssen miteinander einhergehen.

Damit den Praxisteams mehr Zeit für diejenigen Herausforderungen bleibt, bei denen sie als Ansprechpartner für Patientinnen und Patienten wirklich gebraucht werden, müssen wir Digitalisierung von den Praxen und nicht vom Ministersessel aus denken! Eine gelungene Digitalisierung macht auch die Selbstständigkeit und die Arbeit in Praxen wieder attraktiver: für Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Medizinische Fachangestellte gleichermaßen. Noch beeinträchtigt die Digitalisierung deutlich den Praxisablauf – das haben knapp neun von zehn Praxen bei unserer aktuellen Befragung mitgeteilt.

Von heute aus betrachtet liegt also noch eine lange Wegstrecke vor uns – um nicht zu sagen – ein Marathon. Deshalb setzen wir uns intensiv bei der Politik dafür ein, dass alle PVS-Hersteller verbindlich dazu verpflichtet werden, rechtzeitig und fristgerecht einheitliche Qualitätsstandards der gematik zu erfüllen, etwa hinsichtlich Reaktions- und Verarbeitungszeiten sowie Benutzerfreundlichkeit.

Bei unserem Gespräch mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wurde deutlich, dass er davon ausging, dies sei mit dem Entwurf des Digitalgesetzes bereits gewährleistet. Hier haben wir als KV-System nachdrücklich darauf gedrungen, dass dieses Gesetz dringend nachgebessert werden muss. Der Umgang mit der elektronischen Patientenakte (ePA) in den Praxen kann nur so gut werden, wie es das PVS zulässt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt für eine sinnvolle Digitalisierung. Das bestätigen auch die Erfahrungsberichte aus den Praxen zu elektronischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und elektronischem Rezept (eRezept). Und deshalb können wir nicht warten, bis sich das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) als Allheilmittel geplante Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen aufgestellt hat – zumal die ePA 2025 an den Start gehen soll. Die gematik muss sehr viel früher schon die PVS-Hersteller in die Pflicht nehmen können.

Was ein PVS zu einer guten Software für die Praxen macht, das hat eine Arbeitsgruppe aus elf Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erarbeitet – teils im engen Austausch mit Praxen und auch schon auf Grundlage erster Gespräche mit PVS-Herstellern. Die hierfür notwendigen Anforderungen hat die Arbeitsgruppe im Entwurf einer Rahmenvereinbarung nach § 332b des SGB V festgehalten. Den nunmehr vorliegenden Vereinbarungsentwurf können die PVS-Hersteller bis Anfang Januar kommentieren. Ein paar Schlagworte aus dem Entwurf: Preis-Transparenz für die Praxen, Usability im Sinne von komfortabler Unterstützung des Praxisalltags, verlässlicher Service und Support sowie IT-Sicherheit. Unser Ziel ist es, die Rahmenvereinbarung im Februar zu veröffentlichen. Die Unterzeichnung eines solchen Rahmenvertrags ist wohlgemerkt für die PVS-Hersteller freiwillig. Nicht versäumen möchte ich es, allen Beteiligten aus ihren Häusern ausdrücklich für dieses gelungene Beispiel von Teamwork zu danken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese transparente und konstruktive Vorgehensweise zeigt aber auch einmal mehr, wie unangemessen das Agieren der Politik uns gegenüber ist. Zur bitteren Wahrheit gehört, dass nicht nur die Bürgerinnen und Bürger in der Denkweise vieler Politikerinnen und Politiker „die Menschen da draußen“ sind: Auch die Praktikerinnen und Praktiker mit ihrer Fach- und Sach-Expertise finden im BMG an vielen Stellen kein Gehör. Und das geht nicht nur uns so, sondern beispielsweise auch den Mitgliedern der Ständigen Impfkommission (STIKO): Sie sollen zukünftig nur noch für maximal drei Amtsperioden dieses Ehrenamt bekleiden, das heißt für maximal neun Jahre. Zwölf von 17 Mitgliedern sollen daher für die nächste Amtsperiode, die 2024 beginnt, ausgewechselt werden. Die erarbeitete Methodik der evidenzbasierten Bewertung von Impfstoffen, die wissenschaftliche Ratio in Zeiten von politischem Aktionismus während der Pandemie sowie die Einbeziehung von Praktikerinnen und Praktikern aus der ambulanten Versorgung – all das wird über Bord geworfen und scheint nichts mehr wert zu sein. Das ist die Art von mangelnder Wertschätzung und fehlendem Respekt, die auch den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen trotz ihrer Leistungen in der Pandemie entgegengebracht wird.

Und wenn man im BMG doch so transatlantisch denken möchte: In den USA hat man schon in den 80er-Jahren erkannt, dass Wissensmanagement allein mit IT nicht funktioniert. Der Mensch ist der entscheidende Faktor bei der Transition von Wissen vom einen zum anderen. Die IT kann dabei unterstützen; den Menschen und sein Erfahrungswissen aber nicht ersetzen. Wir werden als Lobbyisten und Bedenkenträger diskreditiert. Oder gar als Dinosaurier beschimpft – Stephan Hofmeister hat ja bereits dazu ausgeführt. Was beispielsweise passiert, wenn man Mahnungen hinsichtlich des notwendigen Schutzes sensibler Daten als Blockade abtut, kann man dort sehen, wo tatsächlich Dinosaurier stehen: nicht weit von hier im Naturkundemuseum. Dort waren wochenlang an die 450 Mitarbeitende arbeitsunfähig, weil eine Cyberattacke das gesamte System lahmgelegt hat. Man mag sich gar nicht vorstellen, was das in der Gesundheitsversorgung bedeuten würde!

Das soll keineswegs heißen, dass wir Datennutzung für Versorgung und Forschung verhindern wollen. Ganz im Gegenteil! Wir fordern lediglich, dass vorausschauend für ihren Schutz und ihre Sicherheit gesorgt wird. Und dass die Krankenkassen ihrer Pflicht und Verantwortung nachkommen, ihre Mitglieder über Widerspruchsmöglichkeiten, Zugriffsrechte und Nutzungszwecke aufzuklären. Wir haben ein klares Bild davon, wohin die Digitalisierung im Gesundheitswesen führen soll. Genau deshalb liefern wir gerne praxisnahe Machbarkeitsvorschläge für diesen Weg.

Und dies auch bei allen Detailfragen, mit denen wir auf dem Weg konfrontiert werden – im Übrigen auch bei anderen Themen als der Digitalisierung. Ein paar der aktuellen Detail-Themen möchte ich noch kurz herausgreifen: In drei Wochen greift die Pflicht zum eRezept. Auch deshalb fordern wir, dass die gematik für Praxen nachvollziehbar in Echtzeit über TI-Störungen informieren muss. Wenn etwas mitten im Praxisbetrieb nicht funktioniert, muss die Praxis sofort und verständlich erfahren, was nicht funktioniert und an wen sie sich wenden kann. Die bisherige TI-Status-Website der gematik ist für Praxen nicht nur schwer zu finden, sondern auch schwer zu verstehen, wenn es um ganz praktische Fragen geht.

Auf das eRezept bereiten sich die Praxen seit Monaten vor; die KVen unterstützen sie dabei und die KBV begleitet sie mit einer Info-Serie. Manche PVS müssen jedoch noch deutlich nachbessern. System wie Server müssen dem Anstieg der Datenlast standhalten, Apotheken die Rezepte beliefern können und Patientinnen und Patienten sich an den neuen Prozess gewöhnen. Erst dann kann das eRezept zum erhofften Erfolg werden. Und das gilt auch für alle weiteren Verordnungen, die zu digitalisieren sind.

Digitalisiert werden sollte auch das Antrags- und Gutachterverfahren in der Psychotherapie. Als erste potenziell nutzenversprechende Anwendung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten unterstützen wir diesen Vorstoß der Verbände ausdrücklich. Ebenso wie den Erhalt des Verfahrens. Das haben wir gegenüber dem BMG mehrfach bekräftigt.

„Bürokratie-Abbau“ ist eine weitere politische Floskel. Das jetzt vom BMG vorgelegte Eckpunktepapier ist zwar ein erster Lichtblick, aber noch viel zu vage. Denken wir an die noch etwas mutlos formulierte Absicht zur Einführung von Bagatellgrenzen bei Arznei- und Heilmittelverordnungen oder den bislang noch völlig fehlenden Mut zur Klarstellung bei der Differenzkostenmethode. Und das trotz aller Beteuerungen des Ministers, uns hier weit entgegenkommen zu wollen. Nach Mehrheitsmeinung in unserer Befragung durch das Zi müssen die Arzneimittelregresse ein Ende haben (86 Prozent)! Zwei Drittel der Praxen sehen die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten eingeschränkt, aufgrund der Regressgefahr. Was einst als Kostenkontrolle gedacht war, ist längst zum „Versorgungsverhinderungsmonster“ mutiert. Und mit 98 Prozent sagen fast alle Praxen, wie wichtig es für die Versorgung ist, dass die Dominanz des Papierkrams endlich ein Ende hat. Verzeihen Sie mir den Ausdruck: Da brennt die Hütte, Herr Minister!

Wegen mangelnder Sorgfalt und leider auch Kompetenz des BMG müssen wir nun gerichtlich einfordern, dass Versand und Empfang des eArztbriefes wieder vergütet werden. Die Streichung war aus unserer Sicht eindeutig rechtswidrig. Hierzu werden wir einen Eilantrag stellen, um eine aufschiebende Wirkung zu erzielen. Damit wollen wir erreichen, dass die eArztbrief-Pauschale bis zur gerichtlichen Entscheidung erst einmal weiter abgerechnet werden kann.

Außerdem gehen wir gerichtlich gegen die inadäquate Monatspauschale für die TI-Anbindung vor – beziehungsweise gegen die Ersatzvornahme des BMG. Hierzu haben wir heute unsere Klagebegründung eingereicht. Aus unserer Sicht hebelt das BMG auch an dieser Stelle die Selbstverwaltung aus – und handelt damit verfassungswidrig. Inhaltlich kritisieren wir vor allem, dass die TI-Pauschale deutlich hinter den tatsächlichen Kosten zurückbleibt – und dass sich das bei jeder künftigen TI-Anwendung noch weiter verschärfen wird.

Wie Sie wissen, hat gestern der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) – entsprechend seines gesetzlichen Auftrags – die Ausstellung einer AU-Bescheinigung nach telefonischer Anamnese beschlossen. Die Voraussetzungen dafür sind eng gefasst, beschränkt auf zum Beispiel bekannte Patientinnen und Patienten, mit leichter Symptomatik und auf Fälle, bei denen eine Videosprechstunde nicht möglich ist. Die Entscheidung zur telefonischen AU liegt im alleinigen Ermessen des Arztes oder der Ärztin. Diese Möglichkeit muss gleichermaßen auch für die ärztliche Bescheinigung bei Erkrankung eines Kindes gegeben sein. Dies ist für eine Entlastung der Praxen der Kinder- und Jugendärzte zwingend erforderlich und sollte daher auch für den GKV-Spitzenverband eine Selbstverständlichkeit sein!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss möchte ich auch noch ein paar persönliche Worte an Sie richten. Am Jahresende blicke ich auf zehn Monate in meinem Amt als KBV-Vorständin zurück. Es waren herausfordernde, aber auch spannende Wochen. Es ist uns allen gemeinsam gelungen, den Unmut der Ärzteschaft vehement in Richtung der Bundesregierung und des Bundestages zu transportieren. Die Politik weiß nun: Noch mehr unkoordinierte und ideologisch begründete Attacken auf die gemeinsame Selbstverwaltung gefährden akut die gesundheitliche Versorgungssicherheit in unserem Land! Ich bin mir bewusst, dass Sie mir an der einen oder anderen Stelle mit etwas mehr Geduld begegnet sind und mir die Zeit dafür eingeräumt haben, mich mit einigen neuen Themen vertraut zu machen. Dafür danke ich Ihnen allen sehr herzlich!

Wenn Sie später am Tage diese heutige Sitzung verlassen, dann hoffentlich in eine besinnliche Vorweihnachtszeit. Und dies trotz aller Sorgen, Herausforderungen und der unfassbar schrecklichen Ereignisse in der Ukraine und im Nahen Osten. Hierzu nur ein Wort: Antisemitismus darf in Deutschland und darüber hinaus keinen Platz haben!

Für die Festtage wünsche ich Ihnen schöne Stunden im Kreis Ihrer Familien und Freunde. Und für das neue Jahr alles erdenklich Gute, Gesundheit und Zuversicht!

Vielen Dank.

(Es gilt das gesprochene Wort.)