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Stand 06.05.2024

Reden

Bericht von Dr. Sibylle Steiner an die Vertreterversammlung

Rede des KBV-Vorstandsmitglieds am 06. Mai 2024

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Petra,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

auch ich begrüße Sie ganz herzlich hier in der Mainzer Rheingoldhalle sowie im Livestream!

Einige von Ihnen sind mit der Bahn hierher nach Mainz gereist; etliche Kolleginnen und Kollegen mehr reisen heute zum Deutschen Ärztetag an, der morgen feierlich eröffnet wird. Und so haben sie es selbst nördlich von Mainz oder beispielsweise rund um Stuttgart erlebt: Zugausfälle, Verzögerungen, Störungen. An einem Teil ist der schlechte Zustand der Fahrzeuge schuld, für die Hälfte davon ist das Netz mit Weichen, Stellwerken und Bahnübergängen verantwortlich. Viele Anlagen sind veraltet, einige stammen noch aus der Kaiserzeit!

Nun haben wir es in der Gesundheitsversorgung, genauer gesagt in den Arzt- und Psychotherapeutenpraxen, mit einem viel jüngeren Netz zu tun: mit der Telematik-Infrastruktur (TI). Und doch klingen viele der „Bahn-Probleme“ nur allzu vertraut. Wir haben es nicht mit veralteten Fahrzeugen zu tun, aber mit teils veralteten Praxisverwaltungssystemen (PVS). Stellwerke und Weichen sind bei uns die fehlenden oder unzureichenden Schnittstellen – und das Streckennetz ist bei uns das TI-Netz.

Auf mehr als 630 Stunden sind die Störungen der TI allein in diesem Jahr schon aufgelaufen. 630 Stunden! Und dabei sind wir noch weit entfernt von der zu erwartenden Auslastung in Spitzenzeiten, wenn die „ePA für alle“ einmal voll da ist. Und doch vergeht jetzt schon praktisch kein Tag ohne Störungen der TI oder einem der dazugehörigen Systeme – mit Auswirkungen nicht zuletzt auf die Massenanwendungen elektronisches Rezept (eRezept) und elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). „Und täglich grüßt das Murmeltier“ – kein Wunder, dass in den vergangenen Wochen Erinnerungen an diesen mittlerweile 30 Jahre alten Filmtitel aufkamen. Wie die Hauptfigur in diesem Film, fanden sich die Praxen in einer Zeitschleife gefangen: Morgens gegen acht Uhr ging mindestens ein System in die Knie mit der Folge Ersatzverfahren „Papier“!

Trotz dieser Zuverlässigkeit in der Unzuverlässigkeit brauchen wir nach wie vor wenigstens ein praxistaugliches Infosystem zu Störungsfällen. Der WhatsApp-Kanal der gematik ist diesbezüglich allenfalls ein Workaround. Der IT-Sicherheitsrichtlinie folgend übrigens im Praxiskontext nicht erlaubt – und Privathandys sind keine sichere Alternative!

Laut Gematik sind die Ursachen für die jüngsten Vorfälle identifiziert und wie wir nun aktuell erfahren haben „nachhaltig gelöst“. Da kann ich nur sagen: Schau´n wir mal... Denn wir fordern klar und deutlich: Die TI muss dauerhaft – auch zu Spitzenzeiten – stabil, performant und vor allem ausfallsicher verfügbar und funktionsfähig sein. Denn: Wer von der segensreichen KI träumt, sollte erst einmal die TI ans Laufen bringen, sehr geehrter Herr Bundesminister Lauterbach!

Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen: Künstliche Intelligenz (KI) sowie Algorithmen und Entscheidungsunterstützungen versprechen auch für die ambulante Versorgung Vorteile und Nutzen: Beim Erkennen seltener Erkrankungen beispielsweise oder in der Arzneimitteltherapie im Sinne einer Erinnerungsunterstützung, auch bei der Cybersicherheit oder bei der Patientensteuerung in die richtige Versorgungsebene, wie wir – wie Sie – es mit SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland) heute schon tun und dies konsequent weiterdenken.

Was uns aber überhaupt nicht weiterhilft, sind globale Ansagen wie „KI in all policies!“, wenn man sich im BMG nicht mit konkreten Lösungen für die Sorgen und Probleme im Versorgungsalltag ernsthaft auseinandersetzen will. Ständig müssen die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen, Sie in den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und wir alle in der gemeinsamen Selbstverwaltung, Workarounds schaffen, um die gesetzlichen Vorgaben überhaupt noch gangbar zu machen.

Der Erfolg des Neustarts der elektronischen Patientienakte (ePA) hängt von einigen grundlegenden Voraussetzungen ab, die von Beginn an gegeben sein müssen. Wir werden später auch noch über einen entsprechenden Antrag diskutieren. Die Voraussetzung einer störungsfrei laufenden TI habe ich schon genannt. Und die PVS müssen die Nutzung der ePA schnell, einfach, gut bedienbar und stabil ermöglichen.

Dann kann sie – zum Beispiel mit der automatisch verfügbaren Medikationsliste – zu einer Verbesserung der Prozesse in den Praxen durch eine Digitalisierung führen, die das Personal unterstützt und nicht behindert. Wenn jedoch – nur um eine politische Zielmarke zu erreichen – das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Januar 2025 eine funktionslose, unzureichend getestete und massiv fehlerbehaftete ePA flächendeckend einführt: dann drohen massive Störungen der Versorgung und erneute zusätzliche Belastungen der Praxen – mit weiterem Akzeptanzverlust für die Digitalisierung. Dann wird die „ePA für alle“ zum Flop. Das muss vermieden werden!

Außerdem müssen BMG und Krankenkassen – anders als wir dies bei der Einführung des eRezepts erlebt haben – endlich ihre Aufgabe wahrnehmen, Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise Versicherte über ihre Rechte und Befugnisse im Zusammenhang mit der Nutzung der ePA zu informieren und aufzuklären. Gemeinsam sind wir als KVen dem BMG und den Krankenkassen mal wieder weit voraus und haben längst mit der Information von Ärzten und Psychotherapeuten begonnen. Heute haben wir hier auch einen Info-Stand zur ePA aufgebaut.

Dreh- und Angelpunkt für die erfolgreiche Einführung der ePA in der ambulanten Versorgung sind die Praxisverwaltungssysteme. Hier brauchen die Praxen mehr Verlässlichkeit und Verbindlichkeit bei Performanz und Funktionalität. Dafür muss der Gesetzgeber rasch mit klaren Vorgaben das Kompetenzzentrum für Interoperabilität ermächtigen, uns ein Vorschlagsrecht garantieren und dafür sorgen, dass das Kompetenzzentrum zeitnah diese wichtige Arbeit aufnimmt. Praxen dürfen nicht zum Sündenbock werden, wenn ihre PVS-Anbieter die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllen. Sanktionen und Bußgeldandrohung, die sich gegen die Praxen richten, sind vollkommen inakzeptabel. Hier ist das BMG untätig und mutlos!

Die Zahlen zum Zustand der 130 PVS hat das Zentralinsititut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) in einer bundesweiten Befragung ermittelt und vor wenigen Tagen vorgestellt. Allein die Tatsache, dass mehr als 10.000 Praxen an der Umfrage teilgenommen haben, unterstreicht die hohe Relevanz des Themas: Gerade einmal jede vierte Praxis ist mit der Software zufrieden und würde diese aktiv weiterempfehlen. Rund die Hälfte [47,7 Prozent] der Praxen ist ausdrücklich unzufrieden mit ihrem PVS und die Mehrheit davon [64,5 Prozent] denkt über einen PVS-Wechsel nach.

Was die Befragung leider auch zeigt: Ein Wechsel des PVS bedeutet keineswegs automatisch mehr Zufriedenheit. Jeder fünfte Wechsel war in diesem Sinne vergeblich. Deshalb brauchen wir eindeutig mehr Transparenz und Information, damit der Erfolg eines PVS-Wechsels nicht dem Zufall überlassen bleibt. Die Praxen müssen sich besser informieren können, um nicht vom Regen in die Traufe zu kommen. Hierzu sollen auch die Befragungsergebnisse des Zi beitragen.

Auch die Rahmenvereinbarung, die die Hersteller mit der KBV schließen können, kann hierfür einen Beitrag leisten. Vor anderthalb Wochen haben wir die erste Online-Sprechstunde für die PVS-Anbieter veranstaltet. Diesen Austausch setzen wir konsequent fort.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun hat die Digitalisierung wieder viel Raum eingenommen in meinem Bericht; offensichtlich gilt schon längst „Digitalisierung in all policies“. Dennoch möchte ich es nicht versäumen, einige weitere wichtige Themen anzusprechen.

Unsere Perspektive auf das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) kam heute schon mehrfach zur Sprache. Auf der positiven Seite können wir festhalten, dass mit der Einführung einer Bagatellgrenze von 300 Euro im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen für verordnete Leistungen – sollte sie so vom Gesetzgeber beschlossen werden – ein richtiger und wichtiger Schritt gemacht wird. Ein kleiner, aber wichtiger Schritt, um ein Zeichen gegen die Misstrauenskultur gegenüber Ärzten und Psychotherapeuten zu setzen. Damit dies nicht nur ein reines Lippenbekenntnis bleibt, muss zügig der nächste Schritt gegangen werden: eine Bagatellgrenze auch bei ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungen.

Dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) werden mitunter vom BMG zeitraubende Diskussionen und Selbstblockade unterstellt. Deshalb setzt es im GVSG engere Fristen für die Beratungsdauer. Zugleich aber sollen zusätzliche Organisationen substanziell erweiterte Beteiligungsrechte erhalten: ein klarer Widerspruch in sich oder vielleicht doch Absicht? Ein Beispiel hierfür: Die Beteiligung der für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen der Hebammen gebildeten Verbände wird damit begründet, dass die Mutterschafts-Richtlinie Vorgaben zur Abgrenzung der Aufgaben von Hebammen und Ärzten enthielten. Die Richtlinie jedoch enthält dazu keine Vorgaben mehr. Sie normiert ausschließlich ärztliche Leistungen. Eine direkte Betroffenheit dieser Verbände ist somit nicht gegeben. Allenfalls ein Mitberatungsrecht der wissenschaftlichen Gesellschaft ließe sich damit begründen. Im Übrigen erfolgt heute schon eine Einbeziehung der einschlägigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften in den Stellungnahmeverfahren.

Das BMG macht dem G-BA widersprüchliche Vorgaben – und wir alle, die den G-BA tragen, nämlich die gemeinsame Selbstverwaltung, sollen es hinbekommen, obwohl keiner der zusätzlich beteiligten Akteure in der Umsetzungsverantwortung steht. Das trägt nicht zur Stärkung der Versorgung bei, von der Stärkung der Selbstverwaltung ganz zu schweigen; egal, mit welch wohlklingendem Namen man das Gesetz versieht.

Zur Stärkung der Gesundheitsversorgung gehört auch, die Versorgung zukunftssicher zu machen. Wir fordern daher, dass die ärztliche und psychotherapeutische Weiterbildung gestärkt werden, und dass die Weiterbildung vor allem ambulant stattfinden muss. Das Gegenteil scheint jedoch mit dem vom BMG vorgelegten Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz beabsichtigt zu sein. Dabei blendet das BMG aus, dass ein wichtiger Teil der Patientenversorgung nur ambulant erlernt werden kann. Entsprechend des Auftrags der KBV-Vertreterversammlung vom 8. Dezember letzten Jahres berät auch eine Arbeitsgruppe mit den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten konzeptionell zu Fragen der Sicherung und Finanzierung der ambulanten psychotherapeutischen Weiterbildung. Dazu gehören unter anderem das Erlernen der Besonderheiten der verfahrensgebundenen Richtlinien-Psychotherapie sowie auch die verpflichtende zweijährige ambulante Tätigkeit zum Erwerb der Qualifikation „Fachpsychotherapeut/Fachpsychotherapeutin“.

Da nach dem Psychotherapeuten-Ausbildungsreform-Gesetz Absolventen für eine Weiterbildung in die Praxen streben werden, sind die Finanzierungsfragen (auch) hier besonders drängend. Inzwischen gab es schon mehrere Workshops, wir sind gut vorangekommen und in den nächsten Schritten wird es notwendig sein, Gemeinsamkeiten mit der fachärztlichen Weiterbildung zu benennen und herauszuarbeiten. Denn die ambulante Weiterbildung von Ärzten und Psychotherapeuten ist eine Zukunftsaufgabe, die es zu finanzieren gilt.

Wie wir in den vergangenen Tagen und Wochen intensiv diskutiert haben, stellt das Ärztliche Zentrum für Qualität, auch bekannt als ÄZQ, seinen Betrieb zum 31. Dezember 2024 ein. Dieser gemeinsame Gesellschafterbeschluss von KBV und Bundesärztekammer wurde aus organisatorischen und rechtlichen Erwägungen getroffen. Seit der Gründung des ÄZQ vor fast 30 Jahren haben sich die Rahmenbedingungen derart verändert, dass BÄK und KBV keine Perspektive für die dauerhafte Fortführung dieser gemeinsamen Einrichtung sehen.

Die Mitarbeitenden des ÄZQ – unterstützt durch viele Expertinnen und Experten in zahlreichen Fachgremien – haben in den zurückliegenden Jahrzehnten wichtige Beiträge zur Patienteninformation, zur Patientensicherheit und zur Förderung einer evidenzbasierten Patientenversorgung geleistet. Hierfür gebührt ihnen unser herzlicher Dank und unsere Anerkennung. Diese Entscheidung ist uns wirklich nicht leichtgefallen und wir sind uns als Gesellschafter auch bewusst, dass sie auf Kritik stoßen musste. Aber sie war leider notwendig.

Evidenzbasierte Medizin bleibt für uns ein Kernanliegen. Die Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) stellten und stellen aus Sicht der KBV einen wertvollen Beitrag für die Versorgung dar, da auf sie im Zusammenhang mit verschiedenen vertragsärztlichen Regelungen (z.B. Disease Management Programme) zurückgegriffen werden kann. Eine Übernahme dieser Aufgabe in die KBV war und ist jedoch keine Lösungsoption. Denn wir sind keine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung. Daher prüfen wir derzeit, welche medizinischen wissenschaftlichen Einrichtungen diese Aufgabe – unter Beibehaltung der besonderen Vorgehensweise bei der NVL-Erstellung und unter dem Aspekt der methodischen Weiterentwicklung – zukünftig übernehmen können. Dazu stehen wir auch mit anderen Akteuren im Austausch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor uns liegen entscheidende Wochen und Monate für die Zukunft der Praxen: nicht nur quantitativ angesichts der Zahl an zumindest angekündigten Gesetzentwürfen, sondern vor allem auch qualitativ. Die leeren Versprechungen und Luftschlösser wie „KI in all policies“, die eklatanten Defizite im Gesundheitsnetz namens TI haben hoffentlich ebenso bald ein Ende wie die marode Bahninfrastruktur, von der ich eingangs sprach.

In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam den diesjährigen Ärztetag nutzen, um für den Erhalt unseres noch funktionierenden Gesundheitssystems wieder einmal die mahnende Stimme zu erheben. Wir können Kampagne, wir können kämpfen. Dies haben wir in den letzten Monaten gemeinsam bewiesen. Wir können auch digitale Innovation, wenn wir diese mit Mut, Entschlossenheit und Augenmaß durchsetzen. Die Bürgerinnen und Bürger verlassen sich auf uns und unsere funktionierende ambulante Gesundheitsversorgung.

Daher rufe ich Bundesminister Lauterbach zum Schluss zu: Wachen Sie endlich aus ihren digitalen Wunschträumen auf und kümmern Sie sich erst einmal um die harte Realität einer völlig unzureichenden digitalen Infrastruktur in den Praxen.

(Es gilt das gesprochene Wort)

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