Bericht von Dr. Stephan Hofmeister an die Vertreterversammlung
Rede des stellvertretenden KBV-Vorstandsvorsitzenden am 06. Mai 2024
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
Sie alle kennen das berühmte sogenannte Struck’sche Gesetz, benannt nach dem verstorbenen SPD-Politiker Peter Struck, das da lautet: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist.“ Bei Minister Lauterbach gilt dieser Satz sogar schon für den ersten Schritt des Gesetzgebungsverfahrens, den Referentenentwurf aus dem eigenen Ministerium.
Der jetzt offizielle Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) hat gegenüber dem ersten, der inoffiziell das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat – manche sagen, er wurde „geleakt“ – bereits entscheidende Änderungen erfahren, bevor er Ende Mai ins Kabinett kommen soll. Aus dem „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune“, wie es offiziell heißt, ist jetzt ein Gesetz geworden, das vor allem die hausärztliche Versorgung stärken soll. Dieses Ziel soll zunächst einmal durch die Entbudgetierung erreicht werden, die schon im Koalitionsvertrag steht. Dass sie kommt, ist richtig und überfällig.
Die Tatsache, dass Hausärztinnen und Hausärzte damit aber nicht „besser“ bezahlt, sondern lediglich endlich überhaupt für alle ihre Leistungen zum Preis der Gebührenordnung bezahlt werden, ist etwas, was gegenüber der Öffentlichkeit immer wieder klargestellt werden muss, da es gerne anders kommuniziert wird. Auch die Einführung einer Bagatellgrenze für Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei Arzneimittelverordnungen ist ein wichtiger Schritt, der auch für hausärztliche Praxen Entlastung bringen wird. Damit wird außerdem ein wesentlicher Aspekt, der den medizinischen Nachwuchs von der Niederlassung abschreckt, zumindest entschärft.
Kontraproduktiv aus unserer Sicht ist das vorgesehene Einvernehmen mit den Ländern bei Entscheidungen der Zulassungsausschüsse. Es handelt sich hier um einen weiteren systemwidrigen Eingriff in die Struktur der Selbstverwaltung. Je mehr Mitspracherechte an Protagonisten gehen, die weder die Verantwortung tragen, noch liefern müssen, noch bezahlen, desto unerfüllbarer wird der Auftrag für diejenigen, die ihn tatsächlich, laut Sozialgesetzbuch V (SGB V), haben.
Doch zurück zur hausärztlichen Entbudgetierung. Zu deren konkreter Umsetzung sind aus unserer Sicht noch einige Details zu klären, die sich mit dem entsprechenden politischen Willen aber lösen lassen. Dazu gehört etwa, dass der künftigen hausärztlichen morbiditätsbedingten Gesamtvergütung keine Gelder zugerechnet werden, die eigentlich für andere gesetzliche Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) vorgesehen sind, wie etwa Maßnahmen zur Strukturförderung, und diesen damit entzogen würden. Außerdem muss im Gesetzestext selbst und nicht in der Begründung klargestellt werden, dass auch Hausbesuche entbudgetiert werden.
Für die Verhandlungen im Bewertungsausschuss zur geplanten Versorgungspauschale für chronisch Kranke und zur Vorhaltepauschale bedarf es auf jeden Fall geschärfter gesetzlicher Leitplanken. Vereinfacht gesagt müssen diese sicherstellen, dass die Praxen nicht für das gleiche Geld mehr arbeiten müssen.
Für substanzielle Honorarumverteilungen zwischen den hausärztlichen Praxen ist aus Sicht der KBV kein Spielraum vorhanden. Unerklärlich ist mir nach wie vor, wie es sein kann, dass sich alle Fachleute und Politik in der Analyse einig sind, dass es zu wenig hausärztliche Versorgung gibt und die Zahl der Praxen sogar weiter zu sinken droht und wir uns unter diesen Prämissen dennoch mit Punktsummen- und Ausgabenneutralität befassen müssen. Das widerspricht sich diametral! Wir haben zu wenig, wir brauchen wieder mehr, wir müssen jeden und jede gewinnen, den oder die wir gewinnen können, um auch in Zukunft hausärztlich flächendeckend versorgen zu können. Gelingt uns das nicht, wird es schlechter und teurer.
Wenn es aber gelingt, durch eine kluge Reform die Attraktivität und Leistungsfähigkeit der hausärztlichen Versorgung wieder zu steigern und die Zahl der Praxen und deren Teams zu stabilisieren, ja vielleicht sogar wieder zu erhöhen, dann ist das doch das, was wir erreichen wollen, und dann wird das auch bezahlt werden müssen. Preiswert – oder besser: den Preis wert – ist es allemal! Wo ist da das Risiko?!
Blicken wir deshalb etwas genauer auf die vorliegenden Entwürfe: Die strukturellen Anpassungen der hausärztlichen Vergütung, die der Gesetzentwurf zum GVSG vorsieht, sind nicht mit zusätzlichem Geld hinterlegt. Das bedeutet im Klartext: Vorhandene Mittel werden umverteilt. Auch ist in der Begründung unter dem Abschnitt „Gesetzesfolgen“ sogar von möglichen Minderausgaben die Rede, sprich Einsparungen durch die vorgesehenen Maßnahmen. Hierfür werden sogar Beispiele benannt. Es herrscht Einigkeit zwischen allen Beteiligten auf der hausärztlichen Seite, dass das nicht das Ziel dieser Reform sein darf!
Um aber nicht missverstanden zu werden und es deutlich zu sagen: Wir brauchen eine strukturelle Weiterentwicklung des hausärztlichen Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM). Oder besser ausgedrückt: Es braucht eine Anpassung an die Versorgungsrealität in den hausärztlichen Praxen und ebenso an neue, auch digitale, Versorgungsformen und den kommenden Versorgungsbedarf. Diese Anpassungen müssen wohlüberlegt und sauber kalkuliert sein; und sie werden durch die steigenden Versorgungsbedarfe keinesfalls zu Honorarkürzungen führen können. Klug gemacht und eine stabile hausärztliche wohnortnahe Versorgung ermöglichend, können sie aber verhindern, dass das System entgleist.
Wir haben hierzu mit den KVen konkrete Vorschläge an das BMG gemacht:
Die Herausforderung besteht vor allem darin, auch in Zukunft mit knappem Personal bei steigendem Behandlungsbedarf einer älter werdenden Bevölkerung flächendeckend die Versorgung sicherstellen zu können. Die Vergütung muss daher so ausgestaltet sein beziehungsweise weiterentwickelt werden, dass folgende Ziele erreicht werden können:
- Ertüchtigung der Praxen für die Betreuung einer größeren Anzahl an Versicherten.
- Konzentration der verfügbaren Arztzeit auf den tatsächlichen Behandlungsbedarf, also Entlastung von nicht zwingend ärztlichen Aufgaben, und damit
- ein stärkeres Einbeziehen qualifizierten nichtärztlichen Personals in Versorgungsabläufe und eine entsprechende Berücksichtigung dieses teureren Personals bei der Kalkulation der Gebührenordnung.
Eine nachhaltige Vergütungsreform sollte deshalb folgende Kriterien erfüllen:
- Das Erbringen hausärztlicher Kernleistungen muss im Mittelpunkt der Entwicklung stehen und gefördert werden.
- Die aufwendige Behandlung von multimorbiden Patienten muss angemessen vergütet werden.
- Die Vergütungsreform muss die wachsende Bedeutung von Teamstrukturen in den Praxen berücksichtigen. Dazu gehören beispielsweise Zuschläge für qualifiziertes Personal und vor allem eine Neujustierung der bisherigen Kontaktdefinition.
Wir glauben, dass Strukturpauschalen und Förderungen dieser Art ein hilfreiches Instrument sein können. Die entscheidende Frage ist, wie diese so implementiert werden können, dass wir nicht mit dem Pflug durch die Praxislandschaft gehen und einfach Geld umverteilen, sondern tatsächlich obige Ziele erreichen. Hier sind wir mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) derzeit in einem guten Dialog und erhoffen uns vom Gesetzgeber Anpassungen am Entwurf, die diese Möglichkeiten im Setting des Bewertungsausschusses eröffnen und vor allem stützen. Das wäre das, was ich unter dem Begriff „Förderung“ der hausärztlichen Versorgung verstehe.
Völlig außen vor bleibt erneut die von allen Fachleuten, dem KV-System und auch von uns Hausärzten unisono angemahnte und unabdingbare Steuerung. Wir reiben uns verwundert die Augen. Wie kann bei der klaren Evidenzlage erneut der politische Mut hierzu völlig fehlen? Das ist mir unerklärlich!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, während das GVSG also an einigen Stellen Chancen bietet, wird mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) sozusagen hinterrücks wieder eingerissen, was man vorne gerade mühsam aufbaut. Denn die neuen sogenannten sektorenübergreifenden Versorgungszentren sollen nun „umfassend und dauerhaft“, wie es im Referentenentwurf heißt, zur hausärztlichen Versorgung zugelassen werden, sofern keine Zulassungsbeschränkungen für den jeweiligen Planungsbereich existieren.
Das heißt im Klartext: Die Zentren treten in direkte Konkurrenz zu den Praxen um Personal und sonstige Ressourcen – und das völlig ohne Not, denn es handelt sich ja nicht einmal um unterversorgte Regionen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Frontalangriff auf die hausärztliche Versorgung und eine – möglicherweise bewusste? – Schwächung der ambulanten Versorgung insgesamt!
Zu den Fakten: Krankenhäuser haben schon heute die Möglichkeit, mittels Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums an der hausärztlichen Versorgung teilzunehmen. Allerdings tun das nur wenige. Solche Bestrebungen jetzt auch noch zusätzlich finanziell fördern zu wollen, wird die wohnortnahe Versorgung weiter ausdünnen. Mit einer solchen Regelung würde der Vorrang der ambulanten Versorgung durch Vertragsärztinnen und -ärzte im hausärztlichen Bereich in den meisten Regionen abgeschafft.
Noch absurder wird es, wenn der Gesetzentwurf die sektorenübergreifenden Versorgungszentren darüber hinaus als künftige Zentren der allgemeinmedizinischen Weiterbildung deklariert. Hausärztliche Versorgung zeichnet sich durch eine besondere persönliche Nähe aus, sowohl in der individuellen Beziehung zu den Patienten als auch im räumlichen Sinne durch die Nähe zur beziehungsweise Tätigwerden in der Häuslichkeit des Patienten. Beides ist in einem Zentrum mit wechselnden diensthabenden Ärzten nicht gegeben.
Außerdem ist die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin gerade in der vertragsärztlichen Versorgung ein Erfolgsmodell. Sie ist eine gut etablierte, hoch standardisierte und professionell organisierte Form der Weiterbildung, die sehr gut angenommen wird. Diese ohne Not zu verpflanzen und quasi mit der Wurzel auszureißen wäre geradezu ein Bärendienst für die Sicherung des hausärztlichen Nachwuchses. Dass dieses Ansinnen auch noch mit bis zu 2,5 Milliarden Euro gefördert werden soll, ist eine völlige Fehlinvestition! Ein Bruchteil dieses Geldes würde reichen, um echte strukturelle Verbesserungen in der Versorgung anzugehen.
Diese Bundesregierung ist angetreten mit dem Versprechen, die Ambulantisierung voranzutreiben – das Gegenteil ist der Fall. Das wird mit fast jedem neuen Gesetzentwurf und jeder zusätzlichen Milliarde für die Krankenhäuser klarer.
Wir haben, in enger Abstimmung mit den KVen, unsere Position zu den Gesetzen einschließlich konstruktiver und ganz konkreter Änderungsvorschläge eingebracht. Wir werden nun den weiteren Prozess aufmerksam begleiten und am Ende bewerten, ob man die ambulante vertragsärztliche Versorgung tatsächlich fördern und stärken will, oder ob dies nur Lippenbekenntnisse waren, und wir vor den Bus geworfen werden. Es zählt nicht, was in Sonntagsreden und Talkshows kommuniziert wird! Was zählt, ist das, was am Schluss im Gesetz steht! Und das werden wir bewerten und an Sie kommunizieren, wenn es so weit ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Vertreterversammlung im März dieses Jahres hatte ich berichtet, dass die Beratungen in Brüssel zum EHDS, dem einheitlichen europäischen Gesundheitsdatenraum, in eine positive Richtung laufen. Tatsächlich scheinen sich Parlament, Kommission und Rat jetzt auf ein Regelwerk verständigt zu haben. Diese Einigung erlaubt den EU-Mitgliedsstaaten, ihren Bürgerinnen und Bürgern Widerspruchsmöglichkeiten gegen die Zusammenführung und Weitergabe ihrer Gesundheitsdaten einzuräumen – und dies schon für die Primärnutzung, also beispielsweise für die elektronische Patientenakte. Außerdem können die Praxen von der Pflicht befreit werden, Daten für Forschungszwecke, also die sogenannte Sekundärnutzung, bereitzustellen.
Um den EHDS noch vor der Europawahl beschließen zu können, hat man sich zu einem besonderen Verfahren entschieden: Der Text zum EHDS ist lediglich in einer vorläufigen Version zur Abstimmung gelangt, damit das Parlament noch rechtzeitig darüber entscheiden konnte. Der Text wird nun finalisiert und erst im Herbst endgültig beschlossen werden. Erst danach kann offiziell auch der Rat darüber abstimmen. Dies gilt jedoch als Formsache. Insofern wird das Inkrafttreten der EHDS-Verordnung erst für Ende 2024 erwartet. Dieses Vorgehen ist ungewöhnlich, aber mit dem jetzigen Stand der Dinge ist das Ergebnis allemal erfreulich – für die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger und für den Schutz der ärztlichen und psychotherapeutischen Patientenbeziehung.
Weit weniger erfreulich ist, was die Vertreterinnen und Vertreter europäischer Ärzteorganisationen im Rahmen ihrer Jahrestagung im März in Ljubljana berichtet haben. In immer mehr Ländern sehen sich die ärztliche Selbstverwaltung und die Kammern politischen Repressalien ausgesetzt. In Ungarn und Slowenien wurden Medienkampagnen gegen die Ärzteschaft gestartet, teilweise als Reaktion auf deren Wahrnehmung des Streikrechts. In Ungarn wurde sogar die Pflichtmitgliedschaft in der Kammer aufgehoben, um diese zu schwächen. In Großbritannien ist ein Gesetz geplant, das das Streikrecht für Klinikärzte aufweicht. Dies sind nur ein paar Beispiele von mehreren.
Zwar geht es hierzulande noch nicht um die Beschneidung von Arbeitnehmerrechten – auch wenn eine solche Äußerung aus dem politischen Raum bereits erfolgte – und unsere Verfasstheit in Form der KVen als Selbstverwaltungskörperschaften von selbstständigen Freiberuflern hat in Europa und weltweit ohnehin einen Alleinstellungswert. Gleichwohl beobachten wir auch bei uns politische Bestrebungen, die Selbstverwaltung zu schwächen und immer stärker in die Ausübung unseres freien Berufs hineinzuregieren. Zeichen der Missachtung von Beteiligungsrechten in Gesetzgebungsverfahren oder bei der Terminierung von Anhörungen, wie Andreas Gassen es heute Morgen schon ansprach, sind dabei nur ein weiteres Symptom.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Europawahlen Anfang Juni ist ein Erstarken des politisch rechtsextremen Rands zu erwarten. Gemeinsam mit der Bundesärztekammer hat die KBV ein Positionspapier zur Europawahl verfasst. Wir sind der Überzeugung, dass die Einhaltung demokratischer rechtsstaatlicher Prinzipien nicht nur essenziell für den inneren Frieden Europas ist, sondern auch für ein funktionierendes Gesundheitswesen. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus stehen im diametralen Widerspruch zum ärztlichen Ethos. Themen wie die Liefersicherheit von Arzneimitteln, grenzüberschreitender Gesundheitsschutz sowie verlässliche Standards hinsichtlich der ärztlichen Qualifikation bei der Freizügigkeit von Fachkräften sind nur gemeinsam zu bewältigen.
Andere hingegen, wie etwa Fragen der Aus- und Weiterbildung oder der konkreten Berufsausübung, gehören in nationale Regelungshoheit. Ein Hineinregieren in ärztliche und psychotherapeutische Angelegenheiten und deren Selbstverwaltung können wir nicht akzeptieren – ganz gleich, auf welcher politischen Ebene. Denn alles, was Politik als Alternative zu bieten hat, mag mehr staatlicher Kontrolle dienen, aber nicht den hohen Ansprüchen, die wir als Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten selbst an unser Handeln stellen: Nämlich, nach bestem Wissen und Gewissen für unsere Patientinnen und Patienten „nah“ zu sein.
(Es gilt das gesprochene Wort)