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Was tun bei Verdacht auf Missbrauch?

Ein Verdacht löst viele Fragen aus. Und Druck: emotional wie zeitlich.

Weil man natürlich nachvollziehbarer Weise sofort eine Situation beenden möchte, in der möglicherweise Missbrauch besteht. Gleichzeitig: Wenn die Unsicherheit sehr groß ist und ich weiß eigentlich gar nicht genau, was mit dem Kind passiert ist und was da genau los ist, muss ich aber wie in der Medizin immer erst einmal Diagnostik machen. Das heißt: Ich muss erst mal erfahren, worum es geht, und diese Zeit brauche ich, weil überstürzte Interventionen durchaus auch kontraproduktiv sein können. Die Zeitnot hängt von der Information ab, die ich habe.

Zum Beispiel geht es ja auch nicht zuletzt darum, dass wenn ein Kind Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist, dass man bei zumindest älteren Kindern über eine Kontrazeption sprechen muss nach Vergewaltigung, über eine Postexpositionsprophylaxe sexuell übertragbarer Erkrankungen, und letzten Endes – falls es zu einer Strafanzeige kommt oder falls es notwendig oder gewünscht ist – auch eine Spurensicherung. Das sind alles Dinge, die innerhalb der ersten 24 bis 72 Stunden nach Übergriff erfolgen müssen, weil sie sonst nicht mehr sinnvoll sind. Das heißt, wenn ich einen Verdacht habe und man befindet sich noch in diesem Zeitfenster, dann ist tatsächlich eine dringliche Weiterverweisung an ein spezialisiertes Zentrum geboten, einfach um diese Frist nicht zu verpassen.
Aber ich warne davor, Unüberlegtes zu tun. Sondern im Zweifel, wenn ich den Eindruck habe, ich muss schnell handeln, aber ich weiß eigentlich gar nicht genau, was ich machen sollte, dann muss ich mich beraten lassen.

Beispielsweise durch die medizinische Kinderschutzhotline, eigens für Angehörige der Heilberufe.

Gerade je größer die Unsicherheit in dem Fall ist, desto größer ist auch die Besorgnis etwas falsch zu machen. Dazu muss man festhalten, dass wir seit 2012 als Mediziner die Befugnis haben, das Jugendamt dann zu informieren, wenn wir Sorge um das Wohl eines Kindes haben und nicht in der Lage sind, selbst oder in Kooperation mit den Eltern diese Gefährdung zu beseitigen.
Das heißt: Der Bruch der Schweigepflicht ist seit 2012 kein Bruch der Schweigepflicht mehr, sondern eine erlaubte Informationsweitergabe, wenn ich das anders nicht lösen kann. Insofern ist diese Besorgnis kann man etwas lindern. Und dann muss man letztlich sagen: Unsere Rolle als Mediziner ist es, für das Wohl des Kindes zu sorgen und für eine Diagnostik und Therapie zu sorgen. Unsere Rolle ist es nicht, einen Verdächtigen oder einen Täter zu ermitteln oder gar zu bestrafen. Und wenn man sich dann auf seine Rolle zurückbesinnt, dann spielt es am Ende auch für uns Mediziner nicht mehr die entscheidende Rolle, wer gegenüber dem Kind übergriffig war, sondern der Schutz des Kindes steht im Fokus. Deswegen beschuldigen wir auch niemanden, sondern wir arbeiten daran mit, das Kind zu schützen.

Die Besinnung auf die eigene Rolle ist auch das Beste für die Selbstfürsorge, sagt Bernhardt:

Das Besten was man am Selbstfürsorge machen kann ist, dass man versucht, einen Fall mit möglichst kühlem Kopf und mit in der richtigen Rolle zu bearbeiten; und das hilft einem dann auch hinterher.
Und letzten Endes hilft es natürlich, mit Kollegen komplizierte Fälle zu besprechen und was aber auch sehr hilfreich ist, das ist die Netzwerktätigkeit, das heißt unabhängig vom aktuellen Fall. Wenn ich weiß, an wen ich mich wende, wenn es denn mal brennt, dann ist das schon sehr hilfreich, einfach weil ich nicht in die Situation komme, aus der ich nicht mehr raus weiß.

Der Verdacht kommt auf unterschiedliche Weise auf, oftmals sehr leise, vage, unspezifisch…

Das ist eine ganz häufige Konstellation, dass in der Kinderarztpraxis ein Kind vorgestellt wird, das einen sehr unspezifischen Befund für sexuellen Missbrauch zeigt, zum Beispiel wiederkehrende Harnwegsinfekte, das ist für beim sexuellen Missbrauch nicht häufiger als bei Kindern, die nicht von sexuellem Missbrauch betroffen sind, führt aber doch manchmal zu dem Verdacht und dann entsteht der Verdacht entweder bei den Eltern, die dann besorgt in der Kinderarztpraxis auftauchen oder beim Kinderarzt, bei der Kinderärztin. Da kann man tatsächlich dann raten, so ein Kind ganz konkret kindergynäkologisch vorzustellen; das machen wir dann üblicherweise.
Und häufig raten wir dann auch dazu, dass Eltern selber sich beraten lassen. Um einfach selber mit einer Situation umzugehen und nicht das Kind damit zu belasten.


Manchmal aber ist die Rolle der Eltern nicht ganz klar…

Ich muss versuchen einzuschätzen, ob die Eltern Teil der Lösung oder Teil des Problems sind.
Es kann ganz konkret sein zum Beispiel, dass man bei einem kleinen Kind, bei einem Kleinkind einen Herpes genitalis feststellt oder eine andere Infektion, die üblicherweise im Erwachsenenalter sexuell übertragen wird. Das könnte so ein typischer Befund sein, der plötzlich jetzt mich vor die Frage stellt, was ist denn los mit dem Kind? Und da ist dann zunächst einmal zu klären, entweder ich weiß es selbst als Kinderärztin oder Kinderarzt oder ich muss mir da entsprechend die fachliche Expertise holen: Ist es möglich, dass dieser Befund zum Beispiel noch durch die Geburt sozusagen übertragen wurde? Gibt es die Möglichkeit einer Schmierinfektion oder wie wahrscheinlich ist überhaupt, dass dieser Befund nur sexuell übertragen werden kann, bei meinem konkreten Patienten. Wenn ich das geklärt habe, dann habe ich ja trotzdem noch eine relativ vage Situation, weil ich einen einfachen Befund habe, der auf irgendeine Art sexuellen Missbrauchs hindeutet und ich nicht automatisch davon ausgehen soll und darf, dass die Eltern sozusagen die Bösen sind.

Also wäre das eher ein Fall, wo ich in Kooperation mit den Eltern das Kind weiterverweise, dann aber überprüfbar halte, ob die da auch ankommen. Also ich würde mir schon eine Schweigepflichtentbindung geben lassen, dass ich das Kind sowohl dort anmelde als auch nachtelefoniere, ob es dort angekommen ist. Und wenn das alles geklappt hat, dann weiß ich: Da ist ein Verantwortungsübergang passiert. Falls das Kind dort nicht ankommt, habe ich einen Anhaltspunkt dafür, dass die Eltern da nicht kooperativ sind. Das wäre dann für mich in so einem Setting der Schritt zum Jugendamt, ganz klar.

Auch ein körperkicher Befund ist nicht immer ein eindeutiges Zeichen.

Insgesamt muss man sagen, dass körperliche Befunde nach sexuellem Missbrauch sehr selten sind, also spezifische konkrete medizinische körperliche Befunde sind sehr selten. Das heißt umgekehrt, dass wenn ich ein Kind sehe, bei dem ich den Verdacht habe auf einen sexuellen Missbrauch, und ich sehe einen normalen Befund im Genitalbereich – und zwar egal, ob bei Jungs oder bei Mädchen –, dann habe ich damit den sexuellen Missbrauch sicher nicht ausgeschlossen, sondern es gibt Zahlen von 90/95 Prozent von Kindern, wirklich auch nach schwerem sexuellen Missbrauch, die schon kurze Zeit später einen Normalbefund zeigen, sodass mich die körperlichen Befunde häufig gar nicht so sehr weiterbringen, sondern dann geht es tatsächlich auch um eine spezialisierte Befragung des Kindes, sozusagen über das Erstgespräch hinaus, würde man das Kind dann auch zu einer Befragung vorstellen, die entsprechende Expertise aufweisen muss, und man macht die komplette Diagnostik auch mit Abstrichen möglicherweise und Untersuchungen auf sexuell übertragbare Erkrankungen, sodass man versucht, möglichst viele Bausteine zusammenzutragen und sich dann ein möglichst konkretes Bild von der Situation zu verschaffen.

Manchmal aber keimt der Verdacht ganz spezifisch: Wenn ein Kind sich dem Arzt gegenüber offenbart.

Dann ist es ganz wichtig, dass man dem auch Raum gibt, weil es für Kinder sehr schlimm ist, wenn sie den Mut fassen sich einer Fachkraft gegenüber zu öffnen, von einem sexuellen Missbrauch berichten und merken, Sie kommen damit nicht an oder das Thema wird ignoriert oder der Arzt, die Ärztin findet das so schrecklich, dass es gar nicht nachgefragt wird. Das darf auf keinen Fall passieren.

Jeder, der Kinder untersucht, muss die Autonomie des Kindes wahren. Das heißt: Untersuchungen, vor allem auch gynäkologische oder bei Jungs Untersuchungen des Genitalis, gegen den Willen des Kindes sind absolut tabu. Üblicherweise muss man auch mal einen zweiten, dritten, vierten Termin ausmachen mit einem Kind, um es dann nicht zu überreden, sondern einfach Vertrauen aufzubauen und dann die Untersuchung machen zu dürfen.

Im Wesentlichen ist es, dass man versucht, es nicht suggestiv zu machen, dass man offene Fragen stellt, dass man also empathisch mit dem Kind spricht, nicht zu viel – also nicht die eigene Betroffenheit zeigt, weil das Kind niemanden braucht, der es erschüttert in den Arm nimmt, sondern jemanden, der weiß wo es langgeht und der die richtigen Schritte unternimmt. Das ist das, warum sich die Kinder Fachkräften gegenüber öffnen.

Umgekehrt ist es für die Kinder manchmal sehr therapeutisch, wenn selbst wir als Mediziner, die für die Kinder eine Respektsperson darstellen, den Wunsch des Kindes, nicht untersucht zu werden, respektieren. Das ist ein ganz wichtiger Lerneffekt für die Kinder und auch das darf man therapeutisch nicht unterschätzen.



Was ist zu tun, wenn der Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch aufkeimt?
Wozu sind Ärzte und Psychotherapeuten aus berufsethischer, aber auch aus gesetzlicher Sicht verpflichtet?
Laut Bundeskinderschutzgesetz besteht schon eine Handlungspflicht, wenn auch nur eine Vermutung auf eine Kindeswohlgefährdung besteht. Aber was heißt das genau?
Oliver Berthold, Leiter der Kinderschutzambulanz der DRK Kliniken Westend Berlin, gibt im Interview hilfreiche Tipps, wie man bei einem Verdacht reagiert und wo Ärzte und Psychotherapeuten weitere Unterstützung bekommen.

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