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Stand 06.12.2024

Reden

Bericht von Dr. Sibylle Steiner an die Vertreterversammlung

Rede des KBV-Vorstandsmitglieds am 06. Dezember 2024

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Petra, liebe Kolleginnen und Kollegen,

auch von mir ein herzliches Willkommen hier in Berlin und im Live-Stream! Und Ihnen allen herzlichen Dank für den intensiven und zielführenden Austausch im Rahmen unserer Klausurtagung gestern.

Wir steuern auf die Zeit „zwischen den Jahren“ zu – und irgendwie stecken wir gesundheitspolitisch schon längst mittendrin – nämlich genau seit einem Monat, als am 6. November die Ampel-Koalition nicht mit einem Silvester-Feuerwerk, aber doch mit einem großen Knall auseinandergebrochen ist. Gesetzgeberisch stecken wir also in einer Übergangszeit und müssen – das haben Andreas Gassen und Stephan Hofmeister auch schon zum Ausdruck gebracht – uns bei allen politisch relevanten Entscheiderinnen und Entscheidern einbringen, damit eine neue Bundesregierung endlich die wichtigen Aufgaben in der Gesundheitsversorgung in sinnvolle und effektive Gesetze gießt! Wir brauchen endlich Gesetze, die den Rahmen setzen für eine konkrete, evidenzbasierte Ausgestaltung der Versorgung. Eine Versorgung, die durch die Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung gestaltet wird.

In manchen Regionen heißt die Zeit zwischen den Jahren Raunächte – wohl wegen der felligen Dämonen, die besonders in diesen Nächten ihr Unwesen treiben. Eine haarige Angelegenheit werden die kommenden Monate sicherlich. Sie bieten aber bei aller Diskontinuität auch die Chance, dass manches besser wird. Erst recht, wenn ideologisierte Kräfte in der neuen Legislatur nicht mehr ihr Unwesen treiben.

Wir fordern endlich wieder Verlässlichkeit in der Gesundheitspolitik. Unsere gemeinsame Selbstverwaltung muss ihr Potenzial im Sinne der Versorgung der Menschen wieder voll entfalten können. Was gestoppt werden muss, ist eine Politik, die die Handlungsfähigkeit der gemeinsamen Selbstverwaltung aus Misstrauen oder Ideologie einschränkt – wie wir es in den zurückliegenden Jahren immer wieder erlebt haben. Denken wir beispielsweise an den Entwurf für ein Gesundes-Herz-Gesetz (GHG), mit dem der Minister höchstselbst in Früherkennungs-Untersuchungen und Verordnung von Lipidsenkern eingreifen wollte. Nach vehementer Kritik – nicht nur von uns – hat er beigedreht und es in der Richtlinienkompetenz des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) belassen.

Beispiele für den Eingriff in selbstverwaltetes Handeln gab es auch schon bei der Vorgängerregierung. Sie hat zum Beispiel den GKV-Leistungskatalog an der Evidenz und dem G-BA vorbei erweitert. Oder: Sie hat das seit Langem auf Konsens beruhende Antrags- und Gutachterverfahren in der Psychotherapie mit einem Pinselstrich aus dem Gesetz gestrichen und durch ein fachlich fragwürdiges und überbürokratisches Qualitätssicherungsverfahren ersetzt.

Auf diese Weise beraubt man die gemeinsame Selbstverwaltung nicht nur sukzessive ihres Auftrags, sondern schränkt auch ihre Handlungsfähigkeit stark ein, indem man sachfremde – um nicht zu sagen unnötige – Aufgaben an den G-BA delegiert. Die Politik muss sich wieder auf die bewährte Arbeitsteilung zurückbesinnen und die gemeinsame Selbstverwaltung machen lassen, wofür sie gedacht ist und vor allem wozu sie die notwendige Sachkompetenz hat. Eine eigenständige Selbstverwaltung ist grundlegend für eine freiheitliche und krisenfeste Gesellschaft. Sie sorgt für Kontinuität und Verlässlichkeit über Partei-, Politik- und Regierungswechsel hinweg. Gerade deshalb hat der Gesetzgeber vor rund 70 Jahren die Organe der Selbstverwaltung mit der Sicherung der Versorgung im Bedarfsfall beauftragt. Weil sie handlungsfähig sind. Und zwar auch in Zeiten wie diesen, in denen wir politisch und gesetzgeberisch „zwischen den Jahren“ stecken und die Politik auf Monate hinaus handlungsunfähig ist.

Wir fordern deshalb Evidenz statt Eminenz. Wir fordern einen neuen gemeinsamen Pakt für die Selbstverwaltung. An die Politik gerichtet sage ich: Lassen Sie die Profis machen! Dies gilt auch im Hinblick auf die Forderung nach einem klaren Bekenntnis der Politik zur Freiberuflichkeit. Das Gesundheits-Digital-Agentur-Gesetz (GDAG) wird nun wohl nicht mehr kommen. Aber in der darin vorgesehenen Regelung für einen Paragrafen 370c im SGB V lag das Risiko, dass ganz erheblich in die ärztliche und psychotherapeutische Freiberuflichkeit eingegriffen wird: mit Vergaberegeln für Online-Termine der Praxen; bis hin zu Obergrenzen bei der Online-Termin-Vergabe und Mindestvorgaben zur telefonischen Erreichbarkeit. Und das im digitalen Zeitalter! Hierauf hatte sich der GKV-Spitzenverband sogar schon vorbereitet. Das wäre ein nicht hinnehmbarer Eingriff in den Betrieb der rund 100.000 Haus- und Facharztpraxen, die längst aus eigenem Antrieb für Patientenfreundlichkeit sorgen: mit Services wie Online-Buchungen rund um die Uhr, Termin-Erinnerungen oder Terminserien für chronisch kranke Patientinnen und Patienten. Wir wollen auch hier die Digitalisierung vorantreiben und rund um die 116117-Infrastruktur sinnvoll ausbauen:

  • etwa für die Vermittlung dringlicher Termine durch ein Ersteinschätzungsverfahren zum für Patientinnen und Patienten passenden Versorgungsangebot.
  • Auch stehen wir für die diskriminierungsfreie und bedarfsgerechte Vermittlung, insbesondere von Akut-Terminen über die Kassenärztlichen Vereinigungen.

Hierzu müssen die mit der 116117 bereits verfügbaren Instrumente – auch durch finanzielle Maßnahmen – gestärkt werden, um den Versicherten eine bessere Orientierung im Gesundheitssystem zu geben und damit Patientinnen und Patienten zur richtigen Zeit an den richtigen Versorgungsort zu leiten.

Eine Sorge, die manche mit Blick auf die Digitalisierung umtreibt, ist die Angst vor einer wachsenden Distanz – nicht nur räumlich, sondern auch menschlich. Befeuert wird diese Sorge auch durch die Devise mancher Politikerinnen und Politiker: „digital vor ambulant vor stationär“. Wir sagen dagegen: digital und ambulant vor stationär.

Wir alle hier wissen: Die ärztliche und -psychotherapeutische Versorgung in den Praxen ist der mit Abstand am stärksten digitalisierte und digital vernetzte Teil unseres Gesundheitswesens: 500 Millionen eingelöste elektronische Rezepte (eRezepte), 300 Millionen elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (eAU) und – ebenfalls per KIM-Dienst – fast 50 Millionen elektronische Arztbriefe (eArztbriefe) sprechen für sich. Das haben die Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bewerkstelligt – mit anhaltendem Engagement – trotz aller Widrigkeiten.

Und mit erheblichem finanziellem Einsatz. Wir erwarten allerdings, dass die anderen Akteure des Gesundheitswesens unserem Bespiel folgen, damit die Vernetzung immer breiter und engmaschiger wird und dem Versprechen näherkommt, Nutzen zu stiften und die Herausforderungen in der Versorgung der vor uns liegenden Jahre zu meistern. Die von uns angestoßene Ausrichtung auf gute Medizin durch gute Rahmenbedingungen und anwendungsorientierte Digitalisierung muss konsequent fortgesetzt werden. Die Tage der Vorherrschaft von Bürokratie, technischer Dysfunktionalität und einer politischen Misstrauenskultur gegenüber Ärztinnen und Psychotherapeuten, die ihren Ausdruck in unsinnigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen, überflüssigen Qualitätsprüfungen, Sanktionen und Bußgeldern finden, müssen enden.

Wir fordern von der Politik einen respektvollen Umgang mit der Ressource Zeit von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für ihre Patientinnen und Patienten. Wir fordern ein Umsteuern weg von Sanktionen hin zu Anreizen. Und genau deshalb sagen wir: Regresse und Sanktionen müssen weg! Für all die ausgeführten Punkte erwarten wir zwei Dinge in den ersten 100 Tagen der neuen Bundesregierung: erstens das schon lange versprochene Bürokratie-Entlastungs-Gesetz für die vertragsärztliche und vertragspsychotherapeutische Versorgung. Und dazu zählen wir auch die Einführung von Bagatellgrenzen bei allen Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Und zweitens gemeinsam erarbeitete Eckpunkte eines Praxis-Zukunfts-Gesetzes – für eine wirklich versorgungsstärkende weitere Digitalisierung der Praxen. Damit kann und soll der Gesetzgeber gezielt dort fördern, wo echte Innovation für moderne Praxen möglich ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Reduzierung von Bürokratie und Wirtschaftlichkeitsprüfungen gibt es weitere positive Ansätze, die in der jüngsten Gesetzgebung beziehungsweise den nun ausgebremsten Vorhaben steckten und jetzt dringend weiterverfolgt werden müssen. Dazu zählte unter anderem die Weiterentwicklung der Disease-Management-Programme, insbesondere die regionale Umsetzungsverpflichtung durch die Krankenkassen – wie im Entwurf für das Gesunde-Herz-Gesetz (GHG) vorgesehen.

Aber auch ein wichtiger Aspekt aus dem Entwurf für das Gesundheits-Digital-Agentur-Gesetz (GDAG) muss schnell in die gesetzliche Tat umgesetzt werden: die gematik dazu zu befähigen, quantitative und qualitative Vorgaben für Anwendungen, Dienste und Komponenten der Telematikinfrastruktur (TI) und für Praxisverwaltungssysteme (PVS) zu machen und diese auch durchzusetzen sowie für eine störungsfreie und stabile TI zu sorgen. Denn genau diese Störungsfreiheit der TI brauchen wir angesichts dessen, dass das größte Digitalprojekt des deutschen Gesundheitswesens unmittelbar vor der Tür steht: die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA). Sie kommt. Trotz aller politischen Diskontinuität.

Mitte Januar beginnt die Erprobungsphase in den Modellregionen und alle Versicherten erhalten nach und nach ab diesem Zeitpunkt eine „ePA für alle“ von ihrer Krankenkasse, wenn sie dem nicht widersprochen haben. Wie lange dies dauern wird – allein darüber gibt es widersprüchliche Angaben. Widersprüchlich ist auch, dass mitten in dieser Vorbereitungszeit ein PVS-Hersteller davor gewarnt hat, am 15. Januar werde – wenn überhaupt – nur „dunkelgrüne Schrumpel-Bananen-Software“ in den Praxen anlanden. Während hingegen das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) davon sprach, die ePA sei die am besten vorbereitete TI-Anwendung aller Zeiten!

Für einen solchen Superlativ gibt es derzeit zwar keine Evidenz, aber einige PVS-Hersteller haben vorgestern in der Sneak Preview ihre ePA-Module wenigstens schon einmal vorgestellt. Es wird jetzt ganz wesentlich darauf ankommen, wie die ePA-Module in den unterschiedlichen PVS in den Modellregionen im Echtbetrieb performen. Das werden wir gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) dort sehr eng begleiten. Ich kann Ihnen versichern, dass wir der gematik und dem BMG die gewonnenen Erkenntnisse darüber zurückspiegeln, was von wem zu tun ist, bevor der bundesweite Roll-Out ausgerufen werden kann. Daher danke ich ganz besonders denjenigen KVen, die diese Testphase in den Praxen intensiv begleiten werden.

Über den Zeitpunkt des bundesweiten Starts wiederum will der Minister höchstpersönlich entscheiden. Ob mit politisch-euphemistischer Bauchevidenz oder echter Fakten-Evidenz, dürfte fraglich sein – angesichts der Bundestagswahl Ende Februar. Ein voreiliger bundesweiter Start kann zu erheblich gestörten Praxisabläufen und – laut Industrie – sogar zu unvorhersehbaren Auswirkungen auf TI-Anwendungen wie eRezept, eAU und Kommunikation im Medizinwesen (KIM) führen. Um insbesondere in der Infekt-Saison im Frühjahr 2025 nicht noch zusätzliche Belastungen in den Praxen zu verursachen, müssen wir uns auf ausreichend getestete und gut funktionierende PVS unbedingt verlassen können.

Erst ab dem bundesweiten Roll-Out sind die Praxen verpflichtet, ePA-Module in ihrem PVS vorzuhalten und damit die vom BMG festgelegte beziehungsweise gesetzlich vorgeschriebene Kürzung der TI-Pauschale sowie der Honorare zu vermeiden. Das hat das BMG auf unser Drängen hin schriftlich bestätigt. Diese Information haben wir umgehend an die KVen und die Praxen weitergegeben. So, wie wir auch schon seit Monaten umfassend und multimedial über alle für die Praxis relevanten Aspekte der „ePA für alle“ informieren. Zu unserem Infopaket zählt auch ein Aushang fürs Wartezimmer, mit dem die Patientinnen und Patienten über die Aufgaben der Praxen im Umgang mit der ePA informiert und auf ihr Widerspruchsrecht – insbesondere, wenn es um sensible Informationen geht – hingewiesen werden.

Denn leider sind die Informationen der Krankenkassen für ihre Versicherten darüber, wie sie ihre Widerspruchsmöglichkeiten wahrnehmen und zukünftig Zugriffsrechte, zum Beispiel für einzelne Berufsgruppen oder für die Nutzung ihrer Daten zu Forschungszwecken, begrenzen können, bislang völlig unzureichend. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuelle Analyse des Bundesverbands der Verbraucherzentrale. Ein erhebliches Problem und Ungleichgewicht sehen wir darin, dass der Gesetzgeber Ärzte und Psychotherapeuten verpflichtet, vor der Einbringung sensibler Daten zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen in die ePA, ihre Patienten auf ihr Widerspruchsrecht hinzuweisen.

Beim Einbringen von damit im Zusammenhang stehenden Abrechnungsdaten durch die Krankenkassen oder beim Sichtbarwerden von Verordnungsdaten in der ePA erfolgt jedoch eine solche Information durch die Krankenkassen nicht. Zum Nachteil der Patientinnen und Patienten. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass dies Patientenrechte und nicht zuletzt die Arzt-Patienten-Beziehung gefährdet. Aber Politik und BMG gehen mit diesem patientengefährdenden Denkfehler äußerst leichtfertig um. Dies muss vor Einführung der ePA geändert werden.

Was wir auch weiterverfolgen, ist die Vergütung für all jene Aufwände, die in den Praxen durch Information über und Pflege der ePA entstehen. Von den Krankenhäusern erwarten wir, dass sie die ePA zeitgleich einführen und ihren Digitalisierungsrückstand gegenüber den Praxen aufholen. Denn vom Empfang des digitalen Krankenhaus-Entlassbriefes versprechen sich die Praxen den größten Nutzen durch die ePA. Dies zeigen deutlich die Ergebnisse des PraxisBarometers Digitalisierung: Vom elektronischen Entlassbrief erwarten fast dreiviertel (72 Prozent) der Vertragsärztinnen und -ärzte einen echten Nutzen. Die digitale Kommunikation macht aber an der Sektorengrenze von ambulant zu stationär Halt. Und das, obwohl der stationäre Sektor durch das Krankenhauszukunftsgesetz satte 4,3 Milliarden Euro für die Digitalisierung erhalten hat. Deshalb fordern wir, dass die Krankenhäuser hier endlich mitziehen!

Wie gute Digitalisierung funktionieren kann, wollen wir mit dem Antrags- und Gutachterverfahren für Psychotherapie zeigen: überflüssige Bürokratie abschaffen, das Verfahren erhalten sowie inhaltlich weiterentwickeln und dabei vollständig digitalisieren. Damit wollen wir auch jene Form der Qualitätssicherung (QS) stärken, die aus unserer Sicht wesentlich sinnvoller ist als das von mir eingangs erwähnte QS-Verfahren ambulante Psychotherapie, das uns der Gesetzgeber stattdessen auferlegt hat. Wir setzen uns somit weiter dafür ein, das Antrags- und Gutachterverfahren fortzuführen – und im gleichen Zug zu modernisieren. Hier erleben wir ein sehr konstruktives Miteinander mit den Krankenkassen.

Nicht einig – und das trifft auf unser großes Unverständnis – sind wir mit dem GKV-Spitzenverband hinsichtlich der Versorgung mit sonstigen Produkten zur Wundbehandlung wie zum Beispiel silberhaltige Verbandmittel. Hier hatte der Gesetzgeber die klare Intention mit dem ÖGD-Stärkungsgesetz die bestehende Übergangsregelung zu verlängern und damit die Versorgungssicherheit zu erhalten. Da dies aufgrund der Diskontinuität nicht möglich war, kann ich nur nochmals an den GKV-Spitzenverband appellieren: Erhalten sie die Verordnungsfähigkeit dieser Produkte ohne die Gefahr von Regressen, bis der Gesetzgeber hierzu eine Klarstellung liefert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in Zeiten der „Radical Uncertainty“, der radikalen Ungewissheit – wie ein Buchbestseller vor wenigen Jahren hieß. In dem Buch geht es auch darum, nicht mit Zahlen und Wahrscheinlichkeiten zu hantieren, die nur Scheingenauigkeit vortäuschen. Denn – so die beiden Autoren – das stelle die Dinge unlauter auf den Kopf: von einer (vermeintlich) evidenzbasierten Politik zu einer politikbasierten Evidenz. Genau das tut der amtierende Bundesgesundheitsminister. Beispielsweise droht er im Bundestag direkt oder indirekt mit der Verantwortung für tausende Todesopfer, wenn seinen Gesetzentwürfen nicht zugestimmt werde.

Die Zahl der Hitzetoten will er unter anderem durch bessere Information auf weniger als 4.000 halbieren. 40 Prozent der Krebserkrankungen will er durch Prävention verhindern, 80 Prozent der Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 20 oder 30 Prozent der Demenzerkrankungen. Die Versorgung soll auch dadurch verbessert werden, dass bis Ende 2026 mindestens 300 Forschungsvorhaben durch das Forschungsdatenzentrum (FDZ) umgesetzt werden sollen: unter anderem mit Gesundheitsdaten aus der ePA und Registerdaten. Dabei geizt er nicht mit Superlativen: Die ePA sei ein Quantensprung, der daraus resultierende Gesundheitsdatensatz von globaler Bedeutung, ePA und FDZ das größte Digitalprojekt, das es in Deutschland je gegeben habe. Und dank Digitalisierung und KI werden wir ihm zufolge schon in den nächsten Jahrzehnten Krebs und Demenz überwinden.

Er kann aber auch Negativ-Superlativ: Hinsichtlich der Digitalisierung sei Deutschland Entwicklungsland, das Gesundheitssystem bestenfalls mittelmäßig. Zu teuer, zu ineffizient, gar gefährlich – und bei den Hausärzten herrsche teils Fließbandmedizin vor. Was wirklich gefährlich ist, meine Kolleginnen und Kollegen, ist ein solch düsteres und falsches Bild von der Versorgung in unserem Land zu zeichnen. Es gibt ohne Zweifel viel zu tun und besser zu machen.

Aber alles schlechtzureden, um selbst mit politikbasierter Pseudo-Evidenz in besserem Licht zu strahlen, ist ein durchschaubarer, aber undurchdachter Zug. Schlimmstenfalls spielt das jenen Populisten in die Hände, gegen die Karl Lauterbach bei der Wahl im Februar auch antreten will. Angesichts der herrschenden Krisensituation und unseres hoch komplexen Gesundheitswesens ist die Sehnsucht nach einfachen Antworten nur allzu verständlich. Diese sind aber irreal – und in Kombination mit Populismus eine reale Gefahr für unsere Demokratie. Wir jedoch bieten eine klare Antwort – auf Grundlage von Wissen, Fakten und Erfahrung. Und diese ist im historischen Sinne evidenzbasiert: Gelebte Selbstverwaltung ist gelebte Demokratie. Und damit im doppelten Sinne so entscheidend für unser Land wie schon lange nicht mehr.

Und damit wünsche ich Ihnen und Ihren Familien eine schöne Adventszeit und dann eine im weihnachtlichen Geiste erbauliche Zeit „zwischen den Jahren“!

Vielen Dank
(Es gilt das gesprochene Wort)

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