Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung
Online-Treffen der Mitglieder der KBV-Vertreterversammlung am 26. März 2021
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
ich begrüße Sie zu einer weiteren virtuellen Sitzung der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Mittlerweile haben wir uns zwar an dieses Format gewöhnt, aber der persönliche Austausch fehlt einfach. Was brauchen wir für die ersehnte Rückkehr zur Normalität? Sie wissen es alle: schnelle und flächendeckende Impfungen. Das ist Konsens, doch bei der Frage nach dem Weg zu diesem Ziel gibt es unterschiedliche Auffassungen. Es gibt mittlerweile niemanden mehr, der gegenwärtig noch der Meinung wäre, bei der Impfstoffbestellung sei im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen.
Jetzt besteht allerdings die Gefahr, dass es beim Impfen selbst wieder schiefgeht.
Das Bild, das Deutschland derzeit beim sogenannten Pandemiemanagement abgibt, wirkt immer hilfloser, der Begriff „Impfstrategie“ ist zum Euphemismus mutiert. Wir haben seit fünf Monaten einen Lockdown. Der Erfolg ist erwartbar mäßig– was kommt danach? Richtig: ein weiterer Lockdown. Ergänzt um jahreszeitlich angepasste Durchhalteparolen des Kanzleramtsministers mit Verweis auf das dann bessere Weihnachten, Ostern oder aktuell den Sommer.
Test- und Impfstrategie: Fehlanzeige. Stattdessen wird sogar über landesweite Ausgangssperren sinniert. Die gab es früher im Krieg – als Maßnahme zur Verhinderung von Infektionen sind sie mehr als fragwürdig. Ein bekannter Aerosolforscher nannte solche Maßnahmen schlicht Unfug.
Der neueste Einfall: Urlaubsreisen verbieten. Die Älteren unter Ihnen erinnern sich: Das kannte man eigentlich nur aus dem Ostblock. Außerdem würde das ein dank unserer in Deutschland mäßigen Impfperformance gerade entstehendes neues Geschäftsmodell gefährden: Impfreisen. Nach dem Motto „Verbinden Sie ihren Strandurlaub in Dubai oder Israel oder den Städtetrip nach Moskau mit einer Covid-19-Schutz-Impfung vor Ort“. Das ist leider kein vorgezogener Aprilscherz, sondern der Kulminationspunkt einer bisher gescheiterten, oder besser: nicht erkennbaren Strategie.
Während andere Länder impfen, wo und wie es nur geht, doktert Deutschland an immer neuen Verordnungen und anderen bürokratischen Vorgaben – statt die Praxen einfach machen zu lassen.
Nahezu alle Länder, die schneller impfen als wir, bekommen die Pandemie erheblich besser in den Griff: In Israel, den USA und Großbritannien sinken die Infektions- und Sterbezahlen.
Israel macht Party – wir machen Lockdown.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir müssen in Deutschland dringend etwas ändern. Ministerpräsident Armin Laschet fordert mehr Tübingen in ganz Deutschland. Dem stimme ich ausdrücklich zu. Ich empfehle dazu einen Blick in den von der KBV in Kooperation mit den Virologen Prof. Streeck und Prof. Schmidt-Chanasit entwickelten Maßnahmenkatalog. Wenigstens hat man sich offensichtlich endlich von der Fantasie einer No- oder Zero-Covid-Strategie verabschiedet.
Der vorläufige Tiefpunkt der bisherigen Corona-Maßnahmen war die sogenannte „Erweiterte Ruhephase“ über die anstehenden Ostertage. Dieser offenkundig nicht zu Ende gedachte Schnellschuss hat zuallererst maximale Unruhe ausgelöst, vor allem auch in den Praxen. Als Ärzte wissen wir, dass es nicht zielführend ist, wichtige Entscheidungen in übermüdetem Zustand zu treffen. Übermüdung wirkt ähnlich wie Alkoholkonsum – so beschließt man nichts Wichtiges!
Abgesehen von dem politischen Flurschaden zeigt diese Begebenheit, dass die Ministerpräsidentenrunde mit dem Kanzleramt mitunter nächtliche Beschlüsse trifft, die anderen Vereinbarungen beziehungsweise Zusagen diametral entgegenlaufen. Wenige Tage zuvor hatte dieselbe Runde nämlich im Rahmen ihres sogenannten Impfgipfels beschlossen, dass die Praxen in der Woche nach Ostern flächendeckend mit dem Impfen beginnen sollen.
Wie soll das gehen, wenn die Politik an den vier Tagen vor dem Start Deutschland einfach dichtmacht, inklusive Praxen und Apotheken, über die der Impfstoff bestellt werden soll?
In Absprache mit Ihnen hatten wir als Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und dem Kanzleramt frühzeitig ein mit den Apotheken und dem pharmazeutischen Großhandel abgestimmtes Logistikkonzept vorgelegt. Damit wären die Impfstoffe rechtzeitig in den Praxen angekommen und unsere Ärzte hätten planen können.
Die Osterwoche als Starttermin stellt ohnehin eine gewisse Herausforderung dar, weil der BioNTech-Impfstoff, der für die Praxen bestimmt ist, nicht lange gelagert werden kann. Die Kollegen haben also ohnehin weniger Zeit, diesen auch zu verimpfen. Und dann wird diese komplexe Planung auch noch zusätzlich von der Politik ausgebremst. Das kann nicht sein!
In einem Brandbrief an die Bundeskanzlerin und Bundesgesundheitsminister Spahn haben wir das dargestellt und um dringende Klärung gebeten. Mittlerweile hat man den von einigen Ministerpräsidenten schon als Feiertag bezeichneten Ruhe-Gründonnerstag wieder kassiert. Geht doch!
Das BMG hat uns zugesagt, dass die Bedingungen, die von uns schon im Vorfeld als unverzichtbare Voraussetzungen für den Impfstart am 6. April definiert wurden, gesichert seien. Es gibt also Hoffnung. Das Licht am Ende des Tunnels ist zu sehen und es ist nicht mehr der Zug, der einem entgegenkommt.
Konkret heißt das: Die Praxen werden bis spätestens Mittwoch, den 7. April, 12 Uhr, beliefert, und zwar mit präzise angekündigten Impfstoffmengen. Da klar ist, dass in den ersten Wochen ohnehin nur um die 20 Dosen pro Arzt geliefert werden können, reichen zur Not auch zwei Arbeitstage, um die entsprechenden Patienten einzuladen und zu impfen. Je nach Stand der Impfstoffbeschaffung soll es sukzessive mehr werden.
Es ist aber klar, dass mit diesen Minimengen die Praxen noch nicht der Gamechanger werden, der sie grundsätzlich sein können.
Eine weitere wichtige Zusage betrifft die angepasste Impfverordnung, ohne die es keine Rechtsgrundlage für die Praxen gibt: Die Priorisierung der zu Impfenden kann von den Praxen flexibel gehandhabt werden, für den Fall, dass sie wider Erwarten am Ende der Woche noch Dosen übrighaben sollten. Dann können diese auch außerhalb der Priorisierung verimpft werden, um zu vermeiden, dass sie entsorgt werden müssen. Außerdem wird in der Impfverordnung offengelassen, ob Haus- oder Fachärzte impfen.
Das ist sachgerecht, denn die Devise muss lauten: Wer impfen kann und will, der soll es tun. Deshalb sollen nach dem Start in den Hausarztpraxen mit zunehmender Impfstoffmenge auch mehr Praxen, und zwar explizit auch die Facharztpraxen impfen.
Wenn wir aus der Dauerspirale von Lockdowns, Rücknahme von Einschränkungen und deren erneuter Verschärfung rauskommen wollen, dann müssen wir impfen, impfen, impfen. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurfte, dann hat die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) diesen am vergangenen Montag geliefert.
Die Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vom 15. März, das Impfen mit dem AstraZeneca-Vakzin vorsorglich auszusetzen, war ein Rückschlag, der leider ins mitunter chaotische Bild passt. Minister Spahn hat betont, dass dies eine medizinische Entscheidung sei und keine politische. Das ist so nicht richtig, denn natürlich entscheidet die Politik, ob sie der Empfehlung der Wissenschaftler folgt oder nicht. Gleichwohl halte ich persönlich die Entscheidung für nachvollziehbar. Was hätte er bei dieser Empfehlung des PEI denn sonst tun sollen?
Mittlerweile ist AstraZeneca zurück. Immerhin. Dieser Impfstoff ist aufgrund seiner Lagereigenschaften und seiner Eignung für alle Altersgruppen prädestiniert, in Praxen verimpft zu werden. Allerdings wird er rein quantitativ, ungeachtet gerade entdeckter Depots, bezogen auf die erwarteten Liefermengen in den nächsten Wochen nicht die Hauptrolle spielen. Johnson & Johnson soll bald auch nach Deutschland liefern, aber wohl erst in der zweiten Jahreshälfte in ausreichenden Mengen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
mir klingen noch die Worte von RKI-Chef Wieler im Ohr, der ganz zu Beginn der Pandemie sinngemäß sagte: Pandemie ist nichts für Amateure. Es ist also eine gute Idee, endlich mal die Profis, nämlich uns als niedergelassene Haus- und Fachärzte, unseren Job machen zu lassen.
Die Bedingungen sind klar und von uns seit langem kommuniziert: Wenn es erst einmal losgeht, brauchen wir eine ausreichende und kontinuierliche Lieferung von Impfstoffen an die Praxen. Das wären nach unserer Berechnung circa drei bis vier Millionen Dosen pro Woche. Dann schaffen wir – flankiert von Impfzentren und Betriebsärzten – das, was vor uns schon Israel, die USA, Großbritannien und auch Chile geschafft haben: Wir impfen uns aus der Pandemie.
Schaffen wir das bis zum Sommer, können, und hier zitiere ich Prof. Wieler erneut, alle Beschränkungen fallen. Praxen und KVen stehen bereit und wollen anfangen! Mit mehreren zigtausend haus- und fachärztlichen Praxen, von denen die meisten längst darauf warten und die täglich Anrufe von ihren Patienten kriegen, wann sie denn endlich zum Impfen vorbeikommen können.
Langfristig kann das Impfen ohnehin nur in Praxen stattfinden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Covid-19-Schutzimpfung regelmäßig an das sich verändernde Virus angepasst und Impfungen wiederholt werden müssen. Dann wird es ähnlich wie bei der jährlichen Grippe-Schutzimpfung laufen müssen. Spätestens dann wird das Impfen auch gegen Corona zur jährlichen Routine werden. Das geht nicht ohne unsere Praxen und deren ärztliches Knowhow und ohne die geübten Distributionswege. Weder Apotheken noch irgendwelche Zentren können das leisten. Zum Impfen gehen die Menschen zum Arzt, das war immer so und wird auch immer so bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Mensch tendiert ja dazu, Dinge, die ihm selbstverständlich erscheinen, nicht mehr wahrzunehmen. Ausgerechnet seit der Pandemie habe ich verstärkt den Eindruck, dass die Politik an einer solchen „partiellen Blindheit“ leidet. Die Leistung der Praxen in unserem Gesundheitssystem scheint eine Art blinder Fleck zu sein. Das gilt nicht für alle Politiker, aber doch für einige.
Seit Monaten hofieren diese Politiker den Öffentlichen Gesundheitsdienst, die Krankenhäuser und die Pflege. Diese werden mit zahlreichen Zuwendungen bedacht. Das ist in den meisten Fällen auch völlig berechtigt. Unsere Praxen scheinen jedoch zu einer Randerscheinung der Versorgung degradiert zu werden.
Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass Minister Spahn in einem persönlichen Brief an alle Niedergelassenen betonte, dass sie den „ersten Schutzwall“ im Kampf gegen das Virus bilden. Seither scheint die Berliner Politik die Ärztinnen und Ärzte vergessen zu haben. Und das angesichts der Tatsache, dass seit Beginn der Pandemie bis heute die Niedergelassenen den Löwenanteil der Covid-19-Patienten versorgen. Natürlich versorgen die Kliniken die wirklich schweren Fälle.
Aber diese Kliniken hätten gar keine Chance, sich darauf zu konzentrieren, wenn die Niedergelassenen ihnen nicht den Rücken freihalten würden.
Wann wird das endlich anerkannt?
Auch die Bürgerinnen und Bürger, unsere Patienten, verstehen diese Ignoranz nicht und kritisieren sie zunehmend. Ich bin gespannt, wie lange die Politik sich das in einem Superwahljahr noch leisten will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in dieses düstere Bild fügen sich die jüngsten Ereignisse im Erweiterten Bewertungsausschuss (EBA) nahtlos ein.
Die Praxen werden seit Jahren durch Qualitätssicherungsmaßnahmen und gesteigerte Hygieneanforderungen gefordert, zusätzlich sollen sie digitale Innovationstreiber sein – und das in einem Land, das in Sachen Digitalisierung in der EU auf einem der hinteren Plätze liegt und wo die Gesundheitsämter die letzte Bastion des Thermopapierfaxes sind. Die gematik steigert sich zumindest rhetorisch in einen wahren Innovationsrausch hinein. Kollege Kriedel wird darauf gleich noch zu sprechen kommen.
Gegenfinanzierung des Ganzen? Fehlanzeige!
Umso fassungsloser machen die Ereignisse im Erweiterten Bewertungsausschuss am 17. März, wo endlich – nach jahrelangem Ringen – die Finanzierung der stark gestiegenen Hygienekosten in den Praxen geklärt werden sollte. „Geboten“ wurden vonseiten der Unparteiischen 90 Millionen Euro für diesen Zweck. Gefordert hatten wir als KBV 368 Millionen Euro – auf Basis einer Erhebung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zu Hygienekosten in Vertragsarztpraxen.
Doch damit nicht genug. Gekoppelt wurde dieses Angebot mit einer Absage für alle weiteren Finanzierungsschritte für Digitalisierungsmaßnahmen. Begründung: Die Mehrkosten ließen sich im Gegenzug durch Einsparungen und geringere Bürokratiekosten ausgleichen. Eine wahrlich steile These. Wobei: Wahrscheinlich gibt es diese Einsparungen tatsächlich. Allerdings nur bei den Krankenkassen.
Bei den Praxen gibt es dafür nur noch Verärgerung und Fassungslosigkeit: Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist gesetzt, ohne dass die Industrie ausreichend vorbereitet ist. Das eRezept kommt mit neuem Papiervordruck, weil die wenigsten Patienten elektronische Gesundheitskarten mit einer NFC-Funktionalität haben – die ist aber erforderlich, um ein eRezept auf dem eigenen Smartphone abrufen zu können.
Man kommt sich vor wie bei Monty Python.
In einer Pandemie Kosten für Hygienemaßnahmen nicht gegenfinanzieren zu wollen ist ja schon ein Affront an sich. Dann aber auch noch zu behaupten, die Ärzte würden beim derzeitigen Stand der Dinge durch die Digitalisierung sparen, ist an Zynismus kaum noch zu überbieten.
Klar ist: Wir werden diesen „Nichtbeschluss“ des EBA nicht einfach hinnehmen. Das Maß an Missachtung der Niedergelassenen ist voll! Wir werden das so nicht akzeptieren und das Thema weiter einbringen.
Es passt in dieses Gesamtbild, dass der GKV-Spitzenverband die Rahmenvorgaben nach § 106b Abs. 2 SGB V gestern zum 31. Oktober 2021 per Einschreiben gekündigt hat. Damit wird nicht nur der Wille des Gesetzgebers missachtet, sondern es ist in Zeiten der Pandemie ein weiterer Sargnagel für die gemeinsame Selbstverwaltung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch wenn der Gegenwind mal wieder etwas rauer ist, versteht die Politik mittlerweile wohl doch, dass es ohne uns Ärzte keine Lösung des Impfdebakels und keinen Weg aus der Pandemie geben wird. Das hat leider viel zu lange gedauert. Zeigen wir der Politik nun, dass wir das Impfen können. Nicht für unser Ego, sondern für die Menschen, die uns vertrauen – unsere Patientinnen und Patienten.
Vielen Dank.
Es gilt das gesprochende Wort.