Bericht von Dr. Andreas Gassen an die KBV-Vertreterversammlung
Sitzung am 3. Mai 2021
Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich begrüße Sie herzlich zu unserer Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die normalerweise anlässlich des Deutschen Ärztetages in Rostock stattgefunden hätte. Stattdessen sehen wir Sie und Sie uns leider wieder nur auf dem Bildschirm.
Die letzte Vertreterversammlung dieser Art ist erst sechs Wochen her, seither hat sich zugegebenermaßen thematisch nicht schrecklich viel getan. Mit einer wichtigen Ausnahme: Die Corona-Schutzimpfungen finden endlich auch in den Praxen statt und deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass wir uns bald wieder physisch treffen können.
Das ist tatsächlich wahrscheinlich der entscheidende Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. Die Resonanz aus unseren Praxen ist beeindruckend, jede Woche steigen mehr Kolleginnen und Kollegen in das Impfgeschehen ein.
Aus den Ländern erreichen uns Meldungen, dass Impfzentren mittlerweile Termineinbrüche beziehungsweise -absagen verbuchen, weil die Menschen lieber zu ihrem vertrauten Arzt oder ihrer vertrauten Ärztin gehen, um sich dort ihre Spritze geben zu lassen. Dem Vernehmen nach planen einige Bundesländer, ihre Zentren bereits im Sommer zu schließen.
Aufgrund der in den nächsten Wochen deutlich steigenden Liefermengen an Impfstoffen spricht alles dafür, die Priorisierung endlich bald aufzuheben. Damit bedarf es auch keines Einladungsverfahrens mehr, jede und jeder kann dann die Praxis des Vertrauens kontaktieren und sich dort impfen lassen. Das ist dann wirklich der Schritt zur Rückkehr in die Normalität! Und zu unseren so schmerzlich vermissten Grundrechten.
Wie oft wurde uns dieser Schritt von der Politik schon versprochen: zu Weihnachten, zu Ostern … Aber nein, jedes Mal bedurfte es noch einer, wie es immer tröstend hieß, „letzten großen Kraftanstrengung“, um „die Welle zu brechen“. Die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte lösen jetzt das Versprechen ein, dass die Politik mehrfach gemacht und gebrochen hat.
Eine Studie aus Israel, die in Nature Medicine veröffentlicht wurde, zeigt, dass die nationale Impfkampagne eine wesentlich größere Durchschlagskraft auf Erkrankungs- und Hospitalisierungszahlen hatte als jeder Lockdown.
Jüngster Kulminationspunkt der Lockdown-Politik hierzulande ist das vierte Bevölkerungsschutzgesetz. Ein Gesetz, das sogar nächtliche Ausgangssperren vorsieht. Die Bundesregierung ignoriert dabei Verfassungsrechtler genauso wie Expertenmeinungen, wie die der Gesellschaft für Aerosolforschung, geflissentlich.
Zu offensichtlich ist der Versuch, das Narrativ des Lockdowns als einziges wirkungsvolles Mittel um jeden Preis zu retten, um nicht die unangenehme Frage beantworten zu müssen, warum Deutschland bisher so schleppend geimpft hat. Es sind bereits mehrere Verfassungsklagen anhängig. Es wäre nicht die erste gesetzgeberische Maßnahme in dieser Pandemie, welche die Rechtsprechung wieder kassiert.
Auf Landesebene haben Gerichte die Regelungen zu Ausgangssperren in den dort jeweils geltenden Corona-Verordnungen schon zuvor gekippt. Glaubt die Politik ernsthaft, dass die Menschen massenhaft nach 22 Uhr zu Freunden und Verwandten pilgern, um dort große Partys zu feiern? Denn das war ja das Argument für die Ausgangssperren: nicht der Aufenthalt im Freien als solcher, sondern die Bewegungen – womöglich noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln – von einem Haushalt zum anderen.
Bis heute spielt die Politik weiter munter Glücksrad mit den 7-Tages-Inzidenzen: Von 35 bis 200 war schon alles dabei. Wie man so Vertrauen und immer erneut letzte Reserven bei den Menschen mobilisieren will, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. Ganz zu schweigen davon, dass nach wie vor keine echte Strategie zur Pandemiebekämpfung erkennbar ist, außer die Hoffnung, dass die Ärzte währenddessen einfach so lange impfen, bis der Großteil der Bevölkerung immunisiert ist.
Da sehe ich übrigens schon die nächste gefährliche Zahlendiskussion auf uns zukommen: Wie viel ist denn genug für eine „endgültige“ Rückkehr zur Normalität? 60 Prozent Impfquote? 70? 90? Und was passiert, wenn die Impfbereitschaft nachlässt, wie etwa in den USA schon zu beobachten, und das angestrebte Ziel gar nicht erreicht wird?
Im Eckpunktepapier zur Vorbereitung auf die jüngste Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) am 26. April ist der letzte Satz besonders interessant. Darin heißt es, je nach Infektionslage, Impfquote und neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen seien perspektivisch weitere Ausnahmen von Schutzmaßnahmen vorzunehmen, „bis hin zur Aufhebung aller Schutzmaßnahmen sobald eine Gemeinschaftsimmunität der Bevölkerung erreicht ist“.
Wann diese Gemeinschaftsimmunität erreicht ist, ist nicht spezifiziert. Zu Beginn der Pandemie war mal von 50 oder 60 Prozent Impfquote die Rede. Mittlerweile sprechen manche davon, dass 90 Prozent nötig seien, als Begründung werden jetzt Virusmutanten angeführt.
Wir halten fest: Das zu Beginn der Pandemie ausgegebene Ziel aller Maßnahmen der Bundesregierung war, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Im darauffolgenden Winter hieß es dann, die Maßnahmen würden erst beendet, wenn allen Bürgerinnen und Bürgern ein „Impfangebot“ gemacht werden könne.
Dies ist nach aktuellem Stand wahrscheinlich im Frühsommer der Fall. Und nun scheint es eine weitere neue und zusätzliche Bedingung zu sein, dass die Menschen dieses Angebot auch annehmen, Bund und Länder definieren also immer neue und engere Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit die Pandemiesituation als beendet erklärt und die massiven Grundrechtseinschränkungen für alle aufgehoben werden können.
Der sprichwörtliche Tunnel, durch den wir alle miteinander seit über einem Jahr gehen, wird gefühlt immer weiter verlängert, das Licht am Ende rückt nicht wirklich näher. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Menschen beginnen, sich zu fragen, wann das Hinhalten ein Ende haben wird. Die „letzte Kraftanstrengung“, die ich vorhin zitiert habe, war bislang immer nur die vorletzte. Irgendwann ist die Kraft der Menschen aufgebraucht und der letzte kleine Rest Glaubwürdigkeit der Regierung verspielt.
Es mutet daher schon grotesk oder fast schon zynisch an, wenn der bayerische Ministerpräsident die jüngste MPK-Runde, bei der es eigentlich um Lockerungen von Maßnahmen für Geimpfte gehen sollte, und bei der sage und schreibe nichts beschlossen wurde, als „Hoffnungsgipfel“ bezeichnet. Hoffnung auf was?
Hoffnung darauf, dass die Regierenden bei der nächsten MPK-Runde mit Frau Merkel zu Entscheidungen im Sinne der Regierten fähig sind? Mein Kollege Stephan Hofmeister hat diesen sogenannten Hoffnungsgipfel sehr treffend als Phrasengipfel bezeichnet. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Zurück zum Status quo. Wenn alle Hoffnung auf den Impfungen ruht, dann ist es nur konsequent, alles zu tun, damit so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich geimpft werden können. Und zwar überall und mit allen Impfstoffen, die in Europa zugelassen sind.
Leider sah es zwischenzeitlich sogar danach aus, als wolle die Politik die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bei diesem Ansinnen nicht unterstützen. Vielmehr hatten wir den Eindruck, als wolle man die Praxen übervorteilen, indem man die Impfzentren nur noch mit Biontech beliefere und im Gegenzug alle Dosen von AstraZeneca in die Praxen gibt. Frei nach dem Motto: Sollen doch die Ärzte die Diskussionen mit skeptischen Bürgerinnen und Bürgern führen, während die Zentren den beliebteren Impfstoff von Biontech erhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben als KBV dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) umgehend und unmissverständlich klargemacht, dass diese Ungleichbehandlung mit uns nicht zu machen ist. Mit Erfolg.
Für uns war und ist klar: Die Impfstoffe müssen im selben Verhältnis in die Praxen geliefert werden wie in die Impfzentren. Beziehungsweise in der Aufteilung, wie sie von den Praxen bestellt werden. Die Niedergelassenen sind natürlich bereit, Astra zu verimpfen – es gibt genug Menschen, auch unter 60-Jährige, die sich für dieses Produkt entscheiden – ich eingeschlossen.
Aber die Bedingungen müssen für alle Seiten klar sein. Das Hin und Her der Ständigen Impfkommission (STIKO) bezüglich der Empfehlungen zu AstraZeneca war in keinster Weise hilfreich. Immerhin gab es jetzt endlich eine Klarstellung, wonach die Aufklärung des Patienten und die beiderseitige Entscheidung für den Impfstoff ausreichen. Der Zusatz, dass der Impfstoff „nach ärztlichem Ermessen“ auch unter 60-Jährigen geimpft werden könne, wurde gestrichen.
Das ist nur folgerichtig, denn auf welcher Basis sollen wir als Ärzte das individuelle Risiko einschätzen, wenn es hierfür keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage gibt? Das BMG hat zugesagt, das Haftungsrisiko gesetzlich zu klären. Demnach sollen alle Impfungen rückwirkend ab dem 27. Dezember 2020 unter Staatshaftung fallen.
Wichtig wäre zudem ein klare Aussage, ob das jetzt von der STIKO empfohlene Kombinieren von AstraZeneca bei der ersten Impfung mit einem mRNA-Impfstoff bei der zweiten auch im Ausland als vollständige und Impfschema-adäquate Impfung akzeptiert wird.
Einige Bundesländer haben AstraZeneca bereits für alle Menschen über 18 Jahre freigegeben. Das ist aus unserer Sicht ein richtiger Schritt. Damit können alle Impfstoffe zügig an den Mann und die Frau gebracht werden. Wir hoffen zudem, dass bald auch Johnson & Johnson in den Praxen verfügbar sein wird.
Eigentlich sollte das schon ab dieser Woche der Fall sein. Entsprechende Ankündigungen wurden – wieder einmal – kurzfristig korrigiert. Doch auch ohne Johnson & Johnson sollen die Praxen in dieser Woche drei Millionen Dosen erhalten, 1,6 Millionen von Biontech/Pfizer und 1,4 Millionen von AstraZeneca. Mit dieser deutlich erhöhten Liefermenge können endlich auch die fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen in größerem Umfang in das Impfen einsteigen.
Wenn im nächsten Schritt noch die Betriebsärzte dazukommen, dann haben wir genug ärztliche Man- und Womanpower auf der Straße, um den Impfturbo richtig zu zünden. Dann können wir auch die jüngeren Altersgruppen wohnort- und arbeitsplatznah erreichen.
Die Aufhebung der Priorisierung für alle Impfstoffe ist daher der nächste logische Schritt. Wenn die Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen weitgehend durchgeimpft sind, dann müssen die an der Reihe sein, die vergleichsweise viele Kontakte haben – einfach dadurch, dass sie arbeiten, Kinder haben etc. Auch das jetzt geforderte Impfangebot speziell für soziale Brennpunkte erfordert die Aufhebung einer medizinischen Priorisierung.
Wir sehen, dass die Bevorzugung alter und gebrechlicher Menschen richtig war: Es sterben deutlich weniger Menschen an Covid-19 als vor dem Start der Impfungen. Hätte Deutschland früher mehr Impfstoff bekommen, wären wahrscheinlich Tausende Menschen nicht mehr gestorben.
Selbst Frau Priesemann, eine vehemente Verfechterin von Lockdown-Maßnahmen, muss zugeben, dass das kräftige Absinken der Infektionszahlen jetzt und in den nächsten Wochen ein Effekt der Impfkampagne und nicht des Lockdowns ist.
Wenn die Intensivstationen trotzdem voll sind, dann liegt das daran, dass die Jüngeren, wenn sie einmal dort landen, meistens auch länger dort bleiben. Das Hauptproblem bleibt aber bestehen: Das Personal arbeitet trotzdem vielerorts an der Belastungsgrenze, denn die Arbeit wird nicht weniger.
Deshalb müssen bald alle Menschen flächendeckend ein Impfangebot erhalten. Auch deshalb, damit wir die einschränkenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Maßnahmen insgesamt zurückfahren und unser Land endlich wieder ans Laufen bringen können. Mit steigender Impfstoffmenge wird die Priorisierung faktisch ohnehin in immer mehr Bundesländern gelockert oder entfällt ganz.
Vizekanzler Olaf Scholz will hingegen dennoch an der Priorisierung festhalten. Sein Argument: Es drohe sonst ein Verteilungskampf, den die besser Situierten – besonders jene mit Ärzten im Bekanntenkreis – für sich entscheiden könnten. Das ist platte Wahlkampfrhetorik und zudem sachlich falsch.
Es ist der knappe Impfstoff, der eine Priorisierung notwendig machte. Für die Beschaffung war und ist diese Bundesregierung, also auch der Vizekanzler, verantwortlich. Es ist wohlfeil jetzt vom eigenen Versagen, nicht zuletzt bei den Themen Cum Ex und Wirecard, abzulenken und ein Problem zu thematisieren, das es nicht gäbe, wenn ausreichend und schnell genug Impfstoff geordert worden wäre.
Übrigens, Herr Scholz: Am vergangenen Dienstag haben erstmals mehr Impfungen in Praxen stattgefunden als in den Impfzentren.
Auch wenn das Tempo jetzt anzieht, liegt Deutschland mit einer Impfquote von rund einem Viertel der Gesamtbevölkerung, das mindestens eine Dosis erhalten hat, aktuell nur auf Platz neun weltweit. Unangefochtener Spitzenreiter bleibt Israel, dort haben aktuell fast zwei Drittel der Menschen mindesten eine Erstimpfung erhalten.
Auf Platz zwei und drei folgen Großbritannien mit 50 Prozent und die USA mit 43 Prozent. Dies ist umso bemerkenswerter wenn man bedenkt, dass Deutschland nach den USA der mit Abstand größte Geldgeber bei der Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen ist. Demnach haben die USA 2,2 Milliarden Dollar investiert, Deutschland 1,5 Milliarden Dollar.
Großbritannien demgegenüber „nur“ 500 Millionen. Da kann man salopp formuliert schon mal fragen: Wo bleibt der Stoff? Aber wir wissen ja, wer für die Vertragsabschlüsse zuständig war. Wenn dann die Bundeskanzlerin jetzt noch mehr Gesundheitskompetenzen an die Europäische Union (EU) übertragen will, reibt man sich nur noch verwundert die Augen: Übertragung von Kompetenzen im Bereich Gesundheit an die EU? Bitte nicht!
Doch selbst, wenn wir im Laufe des Sommers alle impfen können, wird uns das Thema weiter begleiten. Wir müssen davon ausgehen, dass die Impfstoffe dem sich verändernden Virus nicht nur einmalig, sondern immer wieder auch in Zukunft angepasst und damit auch die Impfungen regelmäßig aufgefrischt werden müssen. Und wer wird das tun? Vor allem die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte. Ohne uns geht es nicht.
Leider sind weite Teile der Politik – ich hatte bereits in meiner Rede bei der Vertreterversammlung im März darüber gesprochen – auf diesem Auge blind. Der Blick in die Programme der Parteien zur Bundestagswahl, soweit bislang vorhanden, bestätigt diesen Eindruck. Über 100.000 Vertragsärztinnen und Vertragsärzte sowie Hunderttausende Mitarbeitende in den Praxen, die Tag für Tag Millionen Patienten versorgen, werden einfach nicht erwähnt!
Ich spreche an dieser Stelle bewusst von Ärztinnen und Ärzten, denn die psychotherapeutische Versorgung wird immerhin von einigen Parteien gewürdigt. Ansonsten ist viel von Gesundheitsregionen die Rede, von Versorgungszentren etc. Sicher alles begründete und diskussionswürdige Ideen.
Aber die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung mit Ärztinnen und Ärzten, die die Menschen kennen und denen sie vertrauen, die kann auch in Zukunft nur durch unsere Praxen sichergestellt werden.
Die Pandemie hat dazu geführt, dass die Politik den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) wiederentdeckt hat; sie will diesen mit viel Geld und noch mehr hehren Worten unterstützen. Tatsächlich scheint mir das ein sehr langfristiges und ambitioniertes Projekt zu sein, bislang gab es jedenfalls wenig qualitative Veränderungen. Allein hier in Berlin fehlen dem Vernehmen nach 500 Stellen beim ÖGD. Und es bleibt abzuwarten, ob die Politik sich an ihre Zusagen noch erinnert, wenn der Schrecken der Pandemie nicht mehr so präsent ist.
In jüngster Zeit drängte sich ohnehin des Öfteren der Eindruck auf, dass führende Politiker dieses Landes die Pandemie auch gerne mal als Bühne nutzen, um ihre ganz persönliche Agenda zu verfolgen. Haben wir keine anderen Probleme? Als Bürger und Wähler kann man da nur noch den Kopf schütteln.
Noch einmal: Schutz und Achtung der Freiberuflichkeit brauchen wir nicht nur in politischen Sonntagsreden und in Schönwetterzeiten, sondern im gelebten Alltag. Jetzt. Wir brauchen nicht mehr, sondern weniger Bürokratie. Für jede gesetzte Impfung muss ein Arzt sechs Seiten Papier bearbeiten! In nahezu jedem Parteiprogramm singen die Parteien das Hohelied auf die Digitalisierung.
Aktuell ist es der digitale Impfnachweis, von der EU vorgegeben, dessen geplante Umsetzung die Sache derzeit eher komplizierter als einfacher macht. Zur Erinnerung: Es gibt einen offiziellen, weltweit anerkannten Impfnachweis – das ist das gelbe Impfbuch.
Sicher, solange die Bundesregierung Lockerungen und das Wiedererlangen von Freiheitsrechten von einem entsprechenden Nachweis abhängig macht, muss es schnellstens eine einfache und überall verfügbare Nachweismöglichkeit geben. Aber viele Ärzte fragen sich: Warum muss ich mich damit jetzt auch noch befassen? Vieles ist weiter unklar, etwa wie die entsprechenden Daten aus den Praxen in die App kommen.
Wahrscheinlich wird der digitale Impfnachweis ein QR-Code auf Papier werden – damit erreicht er den Digitalisierungsgrad des e-Rezepts, dass es ja wohl zunächst auch nur als Ausdruck geben wird. Thomas Kriedel wird sich in seiner Rede gleich näher damit befassen.
Zurück zu den Wahlprogrammen: Digitalisierung findet überall Erwähnung. Aber die Menschen, welche die Praxen führen und die Arbeitsplätze von hunderttausenden Medizinischen Fachangestellten und auch immer mehr ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sichern, die werden mit keiner Silbe erwähnt. Läuft ja. Fragt sich nur, wie lange noch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
während die Ärzte und ihre Praxisteams als erster Schutzwall in der Pandemie die Reihen geschlossen halten so gut es geht, leidet die gemeinsame Selbstverwaltung unter Auflösungserscheinungen. Seit Wochen erleben wir, wie sich der GKV-Spitzenverband jeglichem inhaltlichen Dialog entzieht.
Die gute Zusammenarbeit zu Beginn der Pandemie findet eigenartigerweise immer ein abruptes Ende, sobald es um die Finanzen der Kassen geht. Immer öfter werden Forderungen, die Praxen und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) unmittelbar betreffen, direkt an die Politik adressiert, mit uns als Vertrags- und Verhandlungspartner aber mit keiner Silbe zuvor besprochen.
Umso wichtiger scheint es, dass wir als KBV und KVen unsere Ideen und Vorschläge für ein zukunftsfestes Gesundheitswesen in die Politik einbringen. Vor der letzten Bundestagswahl haben wir dies anhand des Papiers „KBV 2020 – Versorgung gemeinsam gestalten“ getan.
Seither ist viel passiert, nicht nur eine Pandemie. Wir legen deshalb heute ein neues Konzeptpapier vor. Es heißt „KBV 2025 – Strukturen bedarfsgerecht anpassen, Digitalisierung sinnvoll nutzen“. Es beschäftigt sich mit den Themen und Herausforderungen, die aus Sicht der Niedergelassenen und der ärztlichen Selbstverwaltung in naher Zukunft angegangen werden müssen.
Alle, die an diesem Papier beteiligt waren, wissen, dass es ein langer Prozess war – ausgebremst auch durch Corona, was die Diskussion und die Konsensfindung deutlich erschwert, um nicht zu sagen behindert hat. Herzlichen Dank an alle für Ihr nimmermüdes Engagement!
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Punkt ansprechen, der mir sehr wichtig ist.
Niemand bestreitet die Bedrohung unserer physischen Gesundheit durch das Corona-Virus. Wir sind auf einem guten Weg, die Pandemie endlich unter Kontrolle zu bekommen. Aber diese Pandemie hat noch etwas anderes mit unserem Land gemacht.
Etwas, wogegen keine Impfung hilft, sondern nur unser entschiedenes gemeinsames Bemühen. Die gesellschaftliche Atmosphäre ist zunehmend von Schwarz-Weiß-Positionen geprägt. Ein offener und vertrauensvoller Diskurs erscheint immer weniger möglich.
Politiker und Prominente erhalten Pöbelzuschriften und werden teilweise sogar bedroht.
Günter Jauch wird mit Hass-Schriften angegriffen, weil er für die Impfkampagne wirbt. Jan Josef Liefers erlebte einen Shitstorm, weil er und seine Kolleginnen und Kollegen das taten, was Kunst tun soll: Diskussion einfordern. Und politische Probleme ansprechen.
Den Stil kann man mögen oder nicht, aber dass ein Rundfunkrat quasi ein Berufsverbot für kritische Schauspieler fordert, lässt einen mit Schaudern zurückdenken.
Ärzte und Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten werden in der nächsten Zeit viel damit zu tun haben, auch die seelischen Folgen von Corona zu behandeln, damit unsere Gesellschaft heilen kann.
Vielen Dank.
(Es gilt das gesprochene Wort.)