Bericht von Dr. Andreas Gassen an die KBV-Vertreterversammlung
Rede des KBV-Vorstandsvorsitzenden am 07. März 2025
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
Deutschland hat gewählt. Es gab eine Wahlbeteiligung in einer seit Jahrzehnten nicht gekannten Höhe. Damit ist das Positive aber eigentlich auch schon zusammengefasst. Das Ergebnis hat es nämlich in sich – rund ein Drittel der Stimmen entfielen auf Parteien, die, um es vorsichtig auszudrücken, ein lockeres Verhältnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung haben. Nach der gescheiterten Ampel wird es nun wohl eine Neuauflage der Großen Koalition aus Union und SPD geben – die allerdings gar nicht mehr so groß ist. Da Friedrich Merz deutlich gemacht hat, nicht mit der AfD zu koalieren, ist die SPD als Partner alternativlos, denn andere mehrheitsfähige Konstellationen gibt es nicht. Aber es sind nicht nur diese beiden aufeinander angewiesen; Deutschland und Europa sind es letztlich auch. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder sprach symbolisch von „der letzten Patrone der Demokratie“. Auch wenn ich den Äußerungen von Herrn Söder in der Vergangenheit nicht immer zustimmen mochte, so hat er hier ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Wenn die beiden „alten“ Volksparteien sich nicht zum Wohle des Landes verständigen und gemeinsam einen für die Menschen im Land erkennbaren Politikwechsel hinbekommen, ist fraglich, ob bei der nächsten Bundestagswahl überhaupt noch Parteien der politischen Mitte bei der Regierungsbildung mitwirken werden.
Die großen Themen sind Wirtschaft, Migration und natürlich innere und äußere Sicherheit. Außenpolitisch muss die neue Bundesregierung eine europäische Antwort auf die Aggression Russlands und das Agieren der USA unter Donald Trump finden. So verstört und irritiert man von der Art und Weise auch sein mag, wie die amerikanische Regierung ihre Politik gerade umsetzt und kommuniziert, so sehr schmerzt es aber auch, dass einige der amerikanischen Kritikpunkte berechtigt sind. Viel zu lange haben wir uns in Deutschland einen schlanken Fuß gemacht und uns hinter den Amerikanern versteckt: Deutschland hat bei den Verteidigungsausgaben gespart und gleichzeitig, Putins kriegstreiberisches Tun der letzten Jahrzehnte ignorierend (Tschetschenienkrieg, Georgien, Ukraine-Annexion), billiges Gas aus Russland bezogen. Getreu einem bekannten Werbespruch: Geiz ist geil. Unter dem Druck der Amerikaner ist die neue Bundesregierung gezwungen, das außenpolitische Erbe der Merkel- und Scholz-Ära schnellstens zu korrigieren.
SPD und CDU/CSU haben sich daher entschieden, über die Schaffung neuer sogenannter Sondervermögen eine radikale Korrektur ihrer bisherigen Außen- und Verteidigungspolitik einzuleiten. Niemand mit Vernunft zweifelt daran, dass wir dringend verteidigungsfähig werden müssen. Nur wer verteidigungsfähig, oder, um das unschöne Wort zu benutzen, kriegsfähig ist, kann verhindern, dass Deutschland oder Europa angegriffen werden.
Die künftigen Koalitionspartner sind sich aber auch bewusst, dass Verteidigungsfähigkeit alleine nicht reicht. Die Wirtschaftskrise in Deutschland ist weiterhin nicht überwunden. Milliardenschwere Investitionen in die Infrastruktur sind genauso notwendig. Das umfasst auch die Infrastruktur unserer medizinischen Versorgung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 97 Prozent dieser Versorgung findet in ambulanten Praxen statt und deshalb heißt Investition in Infrastruktur auch Investition in Praxen! Und diese Praxen brauchen Investitionen dringend. Der Investitionsstau im ambulanten Bereich beläuft sich aktuell auf 1,8 Milliarden Euro. Es ist die Zeit gekommen, die Digitalisierung eben nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch in den Praxen über das neue Sondervermögen voranzutreiben. Es ist die Zeit gekommen, in die Struktur 116117 zu investieren, um eine flächendeckende Plattform für Not- und Akutfälle zu schaffen. Es ist die Zeit gekommen, die Praxen wieder in die Situation zu versetzen, die Menschen vollumfänglich zu versorgen. Es ist die Zeit gekommen, Budgets, die man seinerzeit etabliert hat, um Überversorgung zu verhindern, abzuschaffen, um künftige Unterversorgung zu verhindern. Es ist die Zeit gekommen, in eine der wesentlichen Strukturen zu investieren, die mit ihrem Versorgungsversprechen unsere Gesellschaft zusammenhält: die haus- und fachärztliche sowie die psychotherapeutische Versorgung in unseren Praxen.
Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Es ist nicht die Zeit für ein Ausgabenmoratorium! Wer ein Moratorium im Gesundheitswesen in dieser kritischen Zeit fordert, in der es auch darum geht, unsere Gesellschaft zusammenzuhalten, der hat den sprichwörtlichen Schuss nicht gehört.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es ist richtig und notwendig, die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung zu konsolidieren. Aber bitte an den richtigen Stellschrauben. Beiträge zur Krankenversicherung gehören in die Versorgung der Versicherten. Sie sind nicht dazu da, Ausgaben des Bundes zu alimentieren. Niemand fordert, dass die Beitragssätze ins Unermessliche steigen. Aber wir brauchen zur Sicherung der Versorgung zusätzliche Mittel. Wir brauchen eine Finanzierung der digitalen Infrastruktur, die Ausfinanzierung der Leistungsinanspruchnahme durch ALG-2-Empfänger und die Entlastung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von versicherungsfremden Leistungen.
Wir sind gespannt, wer im Kampf um Macht und Posten das Sozialministerium übernimmt, vielleicht wird es sogar mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zu einem Mammutministerium verschmolzen. Auch wenn Gesundheitspolitik kein hervorstechendes Wahlkampfthema war, sollten die Verhandler nicht unterschätzen, welchen enormen Stellenwert Gesundheitsversorgung für die Menschen in diesem Land hat.
Es ist für mich offensichtlich, dass die erratische Gesundheitspolitik der letzten drei Jahre ein Grund für das desaströse Abschneiden der SPD gewesen ist. Die Menschen haben der Gesundheitspolitik von Karl Lauterbach nicht vertraut. Noch ist unser Gesundheitssystem leistungsfähig, aber es ist angezählt, vor allem wegen der zahlreichen hausgemachten Probleme, zu denen die halbgaren Reformen, die Karl Lauterbach hinterlässt, dazugehören.
Er selbst zieht, wenig überraschend, eine zufriedene Bilanz: 20 Gesetze und 95 Verordnungen habe sein Haus vorzuweisen – und immer noch sind einige Verordnungen im parlamentarischen Verfahren. Quantität vor Qualität scheint die Devise. Lauterbachs eigene Erfolgsbewertung seines ministeriellen Tuns dürfte eine verhältnismäßig singuläre Einschätzung im deutschen Gesundheitswesen sein. Besser geworden ist, außer der Versorgung der Bevölkerung mit Cannabis, eigentlich fast nichts.
Nehmen wir nur den Entwurf einer Verordnung zum Krankenhaustransformationsfonds, die der Bundesrat am 21. März beschließen will. Wie Sie wissen, haben wir bereits im vergangenen Jahr Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt, weil wir davon ausgehen, dass der Fonds in seiner Ausgestaltung eindeutig gegen europäisches Wettbewerbsrecht verstößt. Nach den bisherigen Rückmeldungen teilen sowohl die EU-Kommission als auch die Rechtsberater des BMG unsere Vorbehalte.
Trotzdem ist das BMG nicht bereit, den Bedenken vollständig Rechnung zu tragen. Zwar will das BMG den „Aufbau ambulanter Strukturen“ von der Förderung ausschließen, aber die sogenannten sektorenübergreifenden Einrichtungen werden weiterhin nicht explizit ausgenommen – und genau diese sollten ursprünglich dem Aufbau ambulanter Strukturen dienen. Wie unter diesen Umständen die Abgrenzung der Mittelverwendung gewährleistet werden soll, ist unklar. Deshalb haben wir als KBV jetzt noch einmal in einem Schreiben an den Gesundheitsausschuss des Bundesrates sowie alle Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder gegen die vorgesehene Ausgestaltung des Transformationsfonds protestiert und faire Bedingungen für alle Akteure angemahnt.
Diese Verordnung ist nur ein Beispiel, wie das BMG versucht, die losen Enden der Krankenhausreform vor dem endgültigen Ende der Amtszeit doch noch irgendwie zusammenzuknoten. Das Ganze hat weder Hand noch Fuß. Wir haben immer wieder vor einer überhasteten Umsetzung gewarnt, ebenso wie viele andere Betroffene, doch das BMG wollte und will nicht hören. Wir sind gespannt darauf, ob eine neue Bundesregierung die Krankenhausreform komplett rückgängig macht oder zumindest in wesentlichen Teilen noch einmal neu aufsetzt, wie von Unionsabgeordneten bereits angekündigt. Wahrscheinlich wird dieser Schritt alternativlos sein.
Wenn es nach dem noch geschäftsführenden Minister Lauterbach geht, so würde er selbst seine Tätigkeit am liebsten fortsetzen. Er sieht den Gesundheitsbereich sogar als ein gelungenes Beispiel für die Regierungsarbeit der gescheiterten Ampel. Er meint: „Die Ampel hat hier auf eine Art und Weise funktioniert, bei der man sagen kann: Wenn wir das in anderen Bereichen hinbekommen hätten, dann stünden wir jetzt ganz anders da.“ Mit dieser Einschätzung hat er wahrscheinlich sogar recht – eine derartige Performance in allen Politikfeldern hätte Deutschland trotz diskutierter Sondervermögen wahrscheinlich kaum noch retten können.
Unser Noch-Minister behauptet ernsthaft, ein wesentliches Verdienst seiner Arbeit sei, dass es keine Leistungseinschränkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung gegeben habe. Faktisch werden Leistungskürzungen aber die Folge dieser Politik sein! Der GKV-Spitzenverband beziffert das Defizit der Krankenkassen im Jahr 2024 mittlerweile auf über sechs Milliarden Euro und damit noch höher als bislang erwartet. Das liegt nicht zuletzt an der Selbstverständlichkeit, mit der der Bund gesamtgesellschaftliche und Infrastruktur-Aufgaben über die Sozialkassen querfinanziert. Diese Zweckentfremdung von Geldern, die eigentlich in die Patientenversorgung gehören, muss aufhören!
Keine Zweckentfremdung, liebe Kassen, ist es allerdings, wenn mit dem Geld die Arbeit der Niedergelassenen bezahlt wird. Im Gegenteil, genau das ist die Kernaufgabe einer Krankenversicherung! Und schon gar nicht handelt es sich um „Geschenke“ an die Ärzteschaft, wenn deren Leistungen endlich zu vollen Preisen vergütet werden sollen, statt sie regelhaft zu deckeln.
Die jüngste Forderung des AOK-Bundesverbandes, die Entbudgtierung sowohl der Kinder- und Jugendärzte als auch der Hausärzte – die noch nicht einmal vollzogen ist – umgehend zurückzunehmen, ist ein Offenbarungseid. Vor allem in Kombination mit der im gleichen Atemzug geforderten Ausweitung von Terminangeboten. Noch einmal zum Mitschreiben, liebe AOK: In einem budgetierten System kann es keine unbegrenzten Leistungen geben!
Ich glaube nicht, dass dieser einfache logische Zusammenhang von Kassenfunktionären intellektuell nicht verstanden wird, deshalb sind derartige Forderungen nur eines: blanker Populismus. Sie erinnern an das Motto einschlägiger chinesischer Online-Handelsplattformen: Alles sofort und Hauptsache billig. Dazu passt, dass die AOK die Zuschläge für eine schnelle Terminvermittlung von Haus- zu Fachärzten ebenfalls wieder abschaffen will.
Leider bläst die SPD mit der vor ihr geforderten „Termingarantie“ und einer zeitlichen Vorgabe für Termine ins gleiche Horn. Dabei hat Minister Lauterbach mit der Abschaffung der Neupatientenregelung höchstselbst für eine Verschlechterung der Terminsituation gesorgt. Sich jetzt hinzustellen und eine Termingarantie zu fordern, ist völlig abwegig. Wenn hingegen die Politik die Selbstverwaltung mit einem Auftrag versieht, für eine Verbesserung der Terminsituation zu sorgen, werden wir zu einer Lösung beitragen. Aber eine solche Lösung muss auch Fragen und Probleme der Ärzteschaft adressieren und kann nicht einfach von oben verordnet werden.
Wenn man glaubwürdig einen Beitrag zur Stabilisierung der GKV-Finanzen leisten wollte, wie die AOK es in ihrem Sofortprogramm postuliert, dann ist die vertragsärztliche Versorgung definitiv nicht der Bereich, wo man ansetzen muss. Zur Erinnerung: Die Ausgaben für die ambulante ärztliche Behandlung machen gerade einmal 16 Prozent der jährlichen Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen aus. 16 Prozent! Bei den Krankenhäusern liegen die Ausgaben doppelt so hoch. Und selbst für Arzneimittel geben die Kassen mehr aus als für vertragsärztliche Behandlungen. Die stationäre Versorgung hat im Jahr 2023 durchschnittlich 8.710 Euro pro Patient und Jahr gekostet, die ambulante Versorgung weniger als ein Zehntel davon, nämlich 674 Euro. Die Praxen behandeln 576 Millionen Fälle im Jahr, die Krankenhäuser knapp 17 Millionen.
Damit dürfte jedem klar sein: Wir sind nicht der Kostentreiber im Gesundheitswesen! Niemand hat also einen Grund, sich über das Preis-Leistungsverhältnis im ambulanten Bereich zu beschweren – außer die Praxen selbst! Denn gemessen an ihrem Beitrag zur Versorgung – neun von zehn Behandlungsfällen werden in Praxen versorgt – kostet dieser Beitrag die Solidargemeinschaft nur einen Bruchteil. Wenn dann die Erwartung ist, dass Ärztinnen und Ärzte noch mehr leisten sollen und das am besten ohne jedwede Gegenleistung, dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Die Devise muss dann heißen: weniger Geld – weniger Termine.
Ich erwähnte es bereits: Der GKV-Spitzenverband fordert aktuell ein Ausgabenmoratorium. Es dürfe nicht mehr ausgegeben werden, als die Kassen derzeit einnehmen. Sollte es dazu kommen, muss die logische Konsequenz endlich sein: Wir behandeln nicht mehr als das, wofür wir bezahlt werden!
Vor 30 Jahren war der Wunsch nach Leistungsbegrenzung der Grund für die Budgetierung. Logisch wäre es bei dem Wunsch nach Verbesserung des Leistungsangebots, die Budgets insgesamt abzuschaffen. Geschieht das nicht, müssen in den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) flächendeckend Honorarverteilungsmaßstäbe geschaffen werden, die die Leistungsmenge passend zur Geldmenge deckeln. Die Kolleginnen und Kollegen müssen begreifen, dass die Behandlung von Patienten über die Budgetgrenze hinaus zwar ehrenwert ist und im Buch der guten Taten sicher Erwähnung finden wird. Wirtschaftlich ist es grober Unfug.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gibt keinen rechtlichen Anspruch darauf, zu jeder Zeit jede Art von Versorgung zu erhalten, die nach persönlichem Empfinden und Bedürfnis gewünscht oder für notwendig erachtet wird. Das ist in diesem System nicht darstellbar, es ist nicht nötig und nicht finanzierbar. Auch nicht mit stetig steigenden Kassenbeiträgen. Bevor man also mehr Termine fordert, sollte man erst mal schauen, wofür Termine verwendet werden. Sprich: Ist die Behandlung in dieser Form und an jenem Ort wirklich medizinisch geboten? Wenn wir das besser in den Griff kriegen, wird sich die Terminsituation automatisch verbessern. Und das ist dann auch im Sinne der Ärzteschaft.
Es geht hier überhaupt nicht um Patientenschelte. Vielmehr gibt es Patientengruppen, die von einer besseren ärztlichen Koordinierung ihrer Inanspruchnahme medizinischer Leistungen profitieren würden. Im Ergebnis würden diese Menschen besser versorgt, und durch die Reduktion von Fehlinanspruchnahme medizinischer Leistungen würden ärztliche Ressourcen geschont und könnten Kosten gedämpft werden. Dies sollte eine optionale Möglichkeit für die Versicherten sein. Nicht jeder braucht Koordinierung und wir benötigen auch kein verpflichtendes Primärarztsystem.
Wir haben uns auf unserer Klausursitzung der Vertreterversammlung im Januar intensiv unter anderem mit diesem Thema befasst und wollen hierauf aufbauen. Dazu werden wir Ihnen heute zwei Anträge vorlegen und bitten Sie um Ihre Unterstützung. Der erste befasst sich mit der ambulanten Akut- und Notfallversorgung. 4,4 Millionen Mal im Jahr suchen Patientinnen und Patienten von sich aus während der Praxisöffnungszeiten die Notfallambulanz eines Krankenhauses auf. Dabei handelt es sich oft um Menschen, die keinen hausärztlichen oder sonstigen Ansprechpartner im ambulanten System haben oder um solche, die mit diesen Strukturen nicht vertraut sind. Die Notaufnahmen sollten aber echten Notfällen vorbehalten sein. Alle anderen gehören in die Regelversorgung und müssen bei Bedarf dorthin vermittelt werden. Hierfür bedarf es einer verpflichtenden standardisierten Ersteinschätzung, um die Art der Behandlungsnotwendigkeit vorab zu ermitteln und den Patienten dann an die geeignete Stelle weiterzuleiten. Das Instrumentarium hierfür haben wir als KV-System mit der 116117 geschaffen. Wir brauchen jedoch mehr Kapazitäten und eine nachhaltige Finanzierung, um die Infrastruktur einer digitalen und telefonischen Ersteinschätzung und Vermittlung in erforderlichem Umfang sicherzustellen.
Aber auch jenseits der Akut- und Notfallversorgung müssen wir uns mit dem Thema einer besseren Koordinierung im ambulanten System befassen. Dabei geht es darum, dass die Menschen mit ihren jeweiligen gesundheitlichen Anliegen schneller und zielgerichteter an die Stelle gelangen, wo sie am besten versorgt werden können. Ziele sind eine bessere Vernetzung der Versorgungsebenen, eine effizientere Patientensteuerung und eine bessere Nutzung der verfügbaren Ressourcen.
Eine solche Koordinierungsaufgabe gehört ausschließlich in die Hand von Ärztinnen und Ärzten. Sie gehört nicht in die Hand der Krankenkassen. Wenn Kassen fordern, direkt auf Praxistermine zugreifen zu können, um diese an ihre Versicherten weiterzugeben, dann machen sie damit deutlich, worum es ihnen eigentlich geht: nämlich um die schnelle Befriedigung von Bedürfnissen, nicht um nachhaltige Versorgung. Der medizinische Bedarf muss aber im Vordergrund stehen, und der kann nur ärztlich und nach fachlichen Kriterien erkannt und beurteilt werden, nicht vom Schreibtisch einer Krankenkasse aus. Das Instrument dafür gibt es bereits: die 116117. Jetzt muss es eine Finanzierung für die Skalierung dieser Struktur geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Thema ist nur eines von vielen, welche die neue Bundesregierung im Bereich Gesundheit zügig anpacken muss, damit Deutschland Praxenland bleibt. Weitere sind die längst überfällige Notfallreform, der Bürokratieabbau, die Dauerbaustelle Digitalisierung und nicht zuletzt die Finanzierung der Versorgung.
Was auf dem Spiel steht, wenn die Bedingungen in der ambulanten Versorgung nicht besser werden, zeigt unsere Kampagne „Deutschland muss Praxenland bleiben“, die wir im Februar als Fortsetzung der Kampagne „Wir sind für Sie nah.“ gestartet haben. Sie rückt die drängenden Probleme in den Fokus und fordert politische Lösungen. Die Zeit des Abwartens ist vorbei – Politik muss handeln, bevor es zu spät ist. Und zwar nicht nach dem Prinzip „trial and error“, sondern mit systematischen und in sich schlüssigen Konzepten. Ohne ein Umdenken droht der Bevölkerung ein massiver Verlust an medizinischer Versorgung. Das verdeutlichen ein neuer TV-Spot sowie die Website www.praxenland.de auf eindringliche Weise.
Entschlossenes Handeln brauchen wir auch bei einem weiteren Problem, das immer wieder auftaucht und nicht geduldet werden kann und darf: die zunehmende Gewalt, der Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Mitarbeitenden in den Praxen ausgesetzt sind. Auch hierzu haben wir einen Antrag vorbereitet. Dieses Thema gehört ins öffentliche Bewusstsein und auf die politische Agenda. Die Fälle, die es in die Schlagzeilen schaffen, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Gefragt ist hier aber nicht ausschließlich der Gesetzgeber. Ich kann nur an jede und jeden Betroffenen appellieren: Bringen Sie Straftaten zur Anzeige! Nur dadurch wird das Ausmaß und damit die Notwendigkeit auch zum politischen Handeln sichtbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der Bundestagswahl hatte die CDU auf einer DIN-A-4-Seite ein Sofortprogramm zusammengestellt. Einziger gesundheitspolitischer Punkt: die Abschaffung des Cannabis-Gesetzes. Gute Absicht, aber mit Sicherheit – bei aller persönlichen Sympathie für diesen Schritt – nicht das drängendste Problem. Die neue Bundesregierung hat zweifelsfrei große Aufgaben und eine enorme Verantwortung vor sich. Fast möchte ich sagen, sie ist zum Erfolg verdammt. Uns allen ist bewusst, dass die Herausforderungen im Gesundheitsbereich nicht auf Platz 1 der zu lösenden Probleme stehen. Dennoch müssen auch sie entschlossen angegangen werden, damit sie nicht noch größer werden. Erkannt haben das allem Anschein nach die CDU-Landesverbände aus den östlichen Bundesländern. Sie haben ein Papier verfasst, das sehr viel konkretere Forderungen als die meisten Parteiprogramme enthält, um die flächendeckende medizinische Versorgung sicherzustellen. Ich will die Forderungen an dieser Stelle nicht inhaltlich bewerten. Aber es drängt sich der Eindruck auf, dass in Regionen, wo vielleicht auch die Sicherheit der Gesundheitsversorgung als bedroht wahrgenommen wird und wo radikale politische Kräfte besonderen Zulauf haben, die demokratischen Parteien die Notwendigkeit des Handelns für eine Unterstützung der Versorgungsstrukturen eher erkennen.
Die Union und die SPD stehen vor komplizierten Verhandlungen. Wir, die Kassenärztlichen Vereinigungen, bieten der zukünftigen Bundesregierung unsere Unterstützung beim Lösen der anstehenden und teils erst kürzlich kreierten Probleme in der Gesundheitsversorgung an. Die Menschen in unserem Land haben Besseres verdient als die Politik der letzten drei Jahre. Wir sind die Struktur, die mit ihren 185.000 Mitgliedern und insgesamt rund 780.000 in Praxen arbeitenden Menschen die Versorgung gewährleistet. Wir stehen für Gespräche bereit. Es ist an der Zeit, zur Abwechslung mal wieder auf unsere Vorschläge zur Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland zu hören.
(Es gilt das gesprochene Wort)