Notfallversorgung: Stellungnahme der KBV zu den Anträgen der FDP „Notfallversorgung neu denken – jede Minute zählt“ und dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Im Notfall gut versorgt – patientengerechte Reform der Notfallversorgung“
Öffentliche Anhörung im Ausschuss für Gesundheit am 09.06.2021
Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) arbeiten bereits seit mehreren Jahren an einer verbesserten Steuerung der Inanspruchnahme von Krankenhäusern und Arztpraxen in Notfällen.
Die Versorgung von akuten, nicht lebensbedrohlichen Notfällen wird durch die Kassenärztlichen Vereinigungen während der Sprechstundenzeiten in den Praxen und außerhalb dieser Zeiten durch den ärztlichen Bereitschaftsdienst in Praxen oder durch einen mobilen Dienst sichergestellt.
Vor diesem Hintergrund werden die Anträge der Fraktionen der FDP und von BÜNBDNIS 90 /DIE GRÜNEN von der KBV mit dem Ziel, die Reform der Notfallversorgung voranzutreiben, ausdrücklich begrüßt.
Wesentlicher Bestandteil dieser Sicherstellung ist das flächendeckende Netz von Bereitschaftsdienstpraxen der kassenärztlichen Vereinigungen an über 700 Krankenhausstandorten. Der Ausbau dieses Netzes wird von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung nachhaltig unterstützt und vorangetrieben.
Bereitschaftsdienstpraxen an Klinikstandorten sind über Kooperationsverträge mit den Kliniken zum Bezug von Leistungen (z.B. Labor oder Röntgen) oder zur Personalüberlassung heute schon verbunden und können aus Sicht der KBV in die in den Anträgen angesprochenen Strukturen integriert bzw. weiterentwickelt werden.
Zur besseren Orientierung und zum schnelleren Aufsuchen der für die jeweiligen Patientenprobleme richtigen Versorgungsebene (z.B. Bereitschaftsdienstpraxis, niedergelassene Praxis, Krankenhaus) wurde 2012 die bundesweit rund um die Uhr verfügbare Rufnummer 116117 eingerichtet, die allen Versicherten kostenfrei zur Verfügung steht.
Neben der Klärung von Dringlichkeit und richtiger Versorgungsebene können über diese Rufnummer auch Arzttermine sowie weitere Fragen zur Nutzung der ambulanten Versorgung abgeklärt werden. Alleine im Jahr 2021 wurden bis Juni über 6 Millionen Anrufende registriert.
Wesentlicher nächster Schritt ist die Etablierung der strukturierten medizinischen Ersteinschätzung in Deutschland (SmED). Ziel ist, unabhängig vom Ort der Erstvorstellung (telefonisch, in der Bereitschaftspraxis, in der Krankenhausambulanz) nach vergleichbaren Grundsätzen Patienten in die für sie geeignete und richtige Versorgungsebene zu vermitteln.
Ab Sommer dieses Jahres steht diese Ersteinschätzung auch Patienten als Selbsteinschätzung auf mobilen Endgeräten zur Verfügung. SmED basiert auf einem System, mit dem Patientenbeschwerden hinsichtlich ihrer Dringlichkeit eingeschätzt und gezielte Empfehlungen ausgesprochen werden können, etwa: „sofort ins Krankenhaus“, „Termin beim niedergelassenen Arzt reicht aus“ oder „Hausmittel verschaffen Linderung“.
Grundlage für die Identifikation gefährlicher Verläufe ist unter anderem das Projekt und die Publikation „Red Flags“ der Universität Bern, bei dem mehr als 250 wissenschaftliche Arbeiten berücksichtigt wurden. Die von SmED vorgegebene strukturierte Abfrage gewährleistet eine hohe Patientensicherheit, da abwendbare gefährliche Verläufe zutreffend identifiziert werden.
Die in den Anträgen vorgesehene enge Vernetzung und Kooperation von ambulanter Bereitschaftsdienstversorgung und Leistungen der Akutversorgung, die durch Krankenhäuser vorgehalten werden (z.B. Bildgebung, Labor), wird unterstützt.
Die ambulante medizinische Notfallversorgung in den Integrierten Notfallzentren (INZ) sollte eine ärztliche Erstversorgung leisten. Ein INZ ist nach Auffassung der KBV von der Kassenärztlichen Vereinigung in Kooperation mit dem Krankenhaus, welches als Standort eines INZ festgelegt wurde, im Rahmen entsprechender Kooperationsverträge zu betreiben.
In alleiniger Verantwortung des Krankenhauses bleibt nach diesem Konzept die intensivmedizinische, unfallchirurgische und Schockraumversorgung, die aber idealerweise in räumlichem Zusammenhang zum INZ angeboten wird. Der Umfang der zu erhebenden Daten, die Weitergabe dieser Daten in elektronischer Form sowie die Übergabe der Patienten vom einem in den anderen Bereich sollten verbindlich festgelegt werden.
Die KBV begrüßt auch, dem Gemeinsamen Bundesausschuss die Aufgabe zu übertragen, bundesweit einheitliche Vorgaben und Qualitätsanforderungen zur Leistungserbringung, zur räumlichen, personellen und apparativen Ausstattung von INZ sowie zur Auswahl von geeigneten Standorten für INZ zu übertragen.
Die Erfahrungen der Corona-Pandemie, aber auch von Unwetterkatastrophen oder anderen Beispielen der Gefahrenabwehr zeigen, dass eine Zusammenlegung der Rufnummern 116117 und 112 nicht sinnvoll erscheint.
Die 112 sollte weiterhin lebensbedrohlichen Notfällen vorbehalten bleiben und darf nicht durch die ungleich höhere Anzahl von Anrufen in nicht-lebensbedrohlichen Fällen blockiert werden. Essenziell ist dabei die unmittelbare technische Vernetzung beider Leitstellen zum Austausch relevanter, patientenbezogener Daten in Echtzeit. Eine entsprechende Datenschnittstelle wurde durch die KBV entwickelt.
Die gemeinsame Struktur der wechselseitigen Sicherstellung von Akut- und Notfallversorgung sollte in Kooperationsverträgen zwischen den Ländern und den Kassenärztlichen Vereinigungen geregelt werden und als eine technische, insbesondere digitale, aber nicht organisatorische und räumliche Verbindung erfolgen.
Aus Sicht der KBV darf eine Reform der Notfallversorgung aber nicht dazu führen, dass bereits etablierte und funktionierende Strukturen wie z.B. der aufsuchende Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen auf eine neue organisatorische Grundlage gestellt werden müssen und aufgrund der dann erforderlich werdenden Neuorganisation die nächsten Jahre in ihrer Funktion beeinträchtigt sind.
In diesem Zusammenhang ist in erster Linie die Übertragung des Sicherstellungsauftrages für die Notfallversorgung auf die Länder zu nennen. Dieser Paradigmenwechsel in der Organisation der ambulanten Versorgung in Deutschland würde zu erheblichen Verwerfungen führen.
Derzeit haben die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung gemäß § 75 SGB V den Sicherstellungsauftrag für die gesamte ambulante Versorgung von GKV-Versicherten, u.a. auch für die Versorgung der GKV-Versicherten in den sprechstundenfreien Zeiten.
Da es sich bei den Kassenärztlichen Vereinigungen um Personenkörperschaften handelt, wird durch den Sicherstellungsauftrag jeder einzelne Vertragsarzt zu einer entsprechenden Tätigkeit verpflichtet (BSG, Urt. v. 30.11.2016, Az.: B 6 KA 38/15).
Wenn nun aber der Sicherstellungauftrag für einen Teilbereich der ambulanten Versorgung entfällt, hat auch der einzelne Vertragsarzt nicht mehr die Verpflichtung, ärztliche Leistungen in diesem Teilbereich zu erbringen. Würde das KV-System also den Sicherstellungsauftrag für die Notfallversorgung verlieren, müssten die Vertragsärzte nicht mehr am Bereitschaftsdienst teilnehmen.
Die Versorgung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung zu den sprechstundenfreien Zeiten müsste ohne die Vertragsärzte erfolgen. Der ärztliche Bereitschaftsdienst sowie die Rufnummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigungen wären in diesem Fall abzuwickeln.
Sollten die Länder anstelle der Kassenärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag erhalten, würde dies zu Folgendem führen: Die Länder müssten die erforderlichen ambulanten ärztlichen Leistungen den Versicherten zur Verfügung stellen. Hierzu müssten die Länder mit den Krankenkassen entsprechende Verträge zur Versorgung abschließen. Weiterhin müssen die Länder auch die Ärzte rekrutieren, die die Versorgung außerhalb der Sprechstundenzeiten sicherstellen sollen.
Dies verdeutlicht, dass auch eine Reform der Notfallversorgung an die etablierten Strukturen der Versorgung von GKV-Versicherten anknüpfen muss.
Die KBV erklärt vor diesem Hintergrund, dass sie an möglichen Reformvorschlägen der Notfallversorgung konstruktiv mitarbeitet, solange dies unter der Maxime geschieht, die Notfallversorgung zu verbessern. Hierzu bedarf es aber keiner neuen bürokratischen Organisationsstrukturen für die Notfallversorgung, sondern einer intelligenten Weiterentwicklung bereits bestehender und funktionierender Strukturen ambulanter und stationärer Versorgung in Deutschland.