Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung
Sitzung am 17. September 2021
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
ich begrüße Sie zur Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) – die Mitglieder der VV hier im Saal, alle anderen digital zugeschaltet, herzlich willkommen.
Der Herbst steht vor der Tür und es kommen wieder mehr Menschen als noch vor ein paar Wochen mit Covid-19 ins Krankenhaus. Allerdings: 90 Prozent davon sind nicht geimpft. Bundesgesundheitsminister Spahn spricht von einer „Pandemie der Ungeimpften“, mit der wir es jetzt zu tun haben.
Die Tatsache, dass aktuell mehr Menschen unter 60 Jahren in der Klinik landen, ist der niedrigeren Impfquote in dieser Altersgruppe geschuldet. Ich kann gut nachvollziehen, dass viele Kolleginnen und Kollegen auf den Intensivstationen frustriert sind, weil viele Menschen, die aktuell dort liegen, dies durch eine Impfung hätten vermeiden können.
Diese Entwicklung zeigt im Umkehrschluss: Die Impfung wirkt. Und weil sie das tut, hat die Politik sich jetzt dazu durchgerungen, neben den Infektionsraten auch die Impfquote und insbesondere die Situation in den Krankenhäusern zum entscheidenden Parameter für Schutzmaßnahmen zu machen. Sehr spät leider, aber besser spät als nie.
Ich hoffe sehr, dass nach vielen vertanen Monaten endlich mehr Rationalität und Weitsicht in die Debatte kommt. Auch wenn bereits wieder von einer anrollenden „fulminanten“ vierten Welle die Rede ist und abgesehen natürlich von den nicht nachlassenden Kassandra-Rufen der einschlägigen Dauer-Mahner aus der Politik.
Selbst positive Ergebnisse aus der Wissenschaft zum weiteren Verlauf der Corona-Pandemie werden noch drohend kommentiert. So schlussfolgert Karl Lauterbach aus der für ihn „überraschenden“ Erkenntnis, dass das berüchtigte Pädiatrische Inflammatorische Multiorgan-Syndrom (PIMS) bei Kindern im Zusammenhang mit der Delta-Variante kaum noch auftauche: „Somit ist der wesentliche Grund zur Impfung von Kindern die Vermeidung von Long Covid“.
Fakt ist: Wir wissen leider immer noch nicht, was an der Vielzahl vermuteter und beobachteter Syndrome und Symptome, die alle unter dem Begriff Long Covid gefasst werden, tatsächlich durch die Corona-Infektion verursacht wird. Viele dieser gesundheitlichen Probleme, die ich gar nicht in Abrede stellen will, kennen wir auch als Folge anderer Infektionskrankheiten oder einer Intensivbehandlung.
Wir wissen nicht, was ist eine corona-spezifische Problematik? Wir brauchen weitere Forschung auf diesem Gebiet und diese wiederum braucht Zeit.
Im Übrigen sind sich die allermeisten kinderärztlichen Kolleginnen und Kollegen einig: Viel gravierender für den Großteil der Kinder sind nicht die mutmaßlichen Gefahren einer Infektion, sondern der Maßnahmen, die zu ihrer Vermeidung ergriffen wurden, wie monatelange Kontaktverbote, Unterrichtsausfall ecetera.
Die wenigsten Kinder leiden an Long Covid, aber fast alle an Long Lockdown!
Im Übrigen: Die meisten Kinder im Krankenhaus, bei denen SARS-CoV-2 diagnostiziert wird, sind nicht wegen Corona eingewiesen worden. Sondern zum Beispiel wegen einer Fraktur, die durch Sturz von der Schaukel verursacht wurde und bei deren Versorgung im Krankenhaus durch Abstriche eine Corona-Infektion festgestellt wird, die bis dahin niemand bemerkt hatte.
Das Risiko für Kinder ist glücklicherweise sehr gering, ernst an Covid-19 zu erkranken. Deshalb ist es gut, dass die ersten Landesregierungen die Quarantäneregelungen für Schulen und Kitas gelockert haben. Die Politik versündigt sich sonst endgültig an unserer jüngsten Generation, wenn sie ihr einen weiteren Herbst und Winter wie den letzten zumutet.
Wie gesagt: Nach anderthalb Jahren im Krisenmodus brauchen wir endlich eine rationale Diskussion – eben nicht auf Basis von Vermutungen und Befürchtungen, sondern von medizinisch-wissenschaftlichen Fakten. Diese Fakten gibt es mittlerweile und es werden jeden Tag mehr. Das ist es, was die heutige Situation von der im Sommer vorigen Jahres unterscheidet. Auch wissen wir jetzt evidenzbasiert:
Die Null-Covid-Strategie hat nirgendwo funktioniert. Nicht einmal in Neuseeland oder Australien hat das funktioniert. Dort wird nun erst mal Impfstoff nachbestellt in der Hoffnung, die vom Dauer-Lockdown zermürbte und mit dem Versprechen von Zero Covid ruhiggestellte Bevölkerung doch noch zum Impfen bewegen zu können. Bis dahin patrouilliert lieber das Militär in den Straßen und an den Stränden, damit sich niemand vor die Tür wagt.
Anders als dort ist hierzulande ein Mangel an Impfstoffen nicht mehr das Problem. Dennoch sollten wir uns in Deutschland weiter vor allem darauf konzentrieren, die noch ungeimpften Erwachsenen zu gewinnen, die grundsätzlich impfwillig sind, und auf diese Weise eine möglichst breite Grundimmunisierung zu erreichen, bevor wir uns auf die Booster-Impfungen stürzen.
Deshalb rufen wir als niedergelassene Ärzte heute erneut alle Erwachsenen auf, die sich bislang nicht entschließen konnten oder wollten: Lassen Sie sich impfen! Die Impfung schützt nachweislich vor schweren Verläufen und Tod durch Covid-19. Es gibt kaum jemanden, für den eine Impfung aus medizinischen Gründen nicht in Frage kommt.
Auch wenn in Deutschland kein Impfstoffmangel mehr herrscht, sind Politiker gut beraten, in medizinischen Fragen auf medizinische Expertise zu hören. Das entscheidende Gremium für Impfungen ist die Ständige Impfkommission. Diese mag in der Vergangenheit nicht immer geschickt agiert haben was ihre Kommunikation angeht, etwa in Bezug auf den AstraZeneca-Impfstoff.
Aber sie hat sich stets an der aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Datenlage orientiert. Darauf müssen ihre Empfehlungen beruhen und nicht auf dem, was der eine oder andere Politiker sich wünscht. Eine Impfung ist kein Freibier, sondern eine medizinische Maßnahme und muss auch als solche behandelt werden!
Was die Bewältigung der Pandemie angeht, so können alle, die in der Versorgung tätig sind, sei es im Krankenhaus, in der Pflege oder in den Praxen, stolz sein auf das, was sie unter widrigen und oft sehr belastenden Umständen geschafft haben – und immer noch jeden Tag schaffen.
Für eine abschließende Bilanz ist es noch zu früh – gleichwohl haben wir für den ambulanten Bereich ein Zwischenfazit gezogen und dieses in verschiedenen Formaten aufbereitet. Einmal in Textform in einem mehrseitigen Papier, flankiert von einem kompakten Fact Sheet, indem wir einige wichtige Kennzahlen grafisch aufbereitet haben. Darin können Sie unter anderem nachlesen, dass wir während der gesamten Pandemie 13 von 14 Patienten ambulant versorgt haben, nur jeder 14. Betroffene musste ins Krankenhaus.
Die vertragsärztlichen Praxen haben von April bis Ende August dieses Jahres über 40 Millionen Erst- und Zweitimpfungen durchgeführt. Bis Ende des ersten Quartals 2021 haben die Praxen 13,4 Millionen PCR-Tests bei Patienten mit Symptomen gemacht.
Bis Mitte August haben die KVen insgesamt – also auch von anderen Anbietern – 22 Millionen PCR-Tests und 230 Millionen PoC-Antigentests bei Menschen ohne Symptome abgerechnet. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der vorläufigen Bilanz.
Diese und viele weitere Zahlen und Analysen sind in Kürze auch auf der Website der KBV zu finden. Wir werden diese Fakten auch breit in die Politik streuen. Sie zeigen eindrucksvoll, welchen Beitrag die Niedergelassenen und das KV-System zur Bewältigung der Pandemie beigetragen haben und immer noch beitragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte auf ein anderes, strategisch wichtiges Thema zu sprechen kommen, zu dem heute auch ein Antrag vorliegt. Es geht um digitale Dienste für Vertragsärzte, über die wir im Kreis der Vorstände schon seit längerem und kürzlich gemeinsam in einer Klausursitzung beraten haben.
Wir konnten dabei ein gemeinsames Verständnis entwickeln, welche Ziele wir verfolgen, was dabei realistisch und sinnvoll ist und wie wir vorgehen. Wir wollen kein ärztliches Amazon entwickeln und wir sind auch nicht die gematik. Wir wollen allen Vertragsärzten und -psychotherapeuten ein praktisches Angebot machen, das ihnen die tägliche Arbeit erleichtert, mit unterschiedlichen digitalen Services, die sie freiwillig nutzen können, etwa zum Terminmanagement.
Wenn wir uns nicht darum kümmern, werden es andere tun. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Unterstützung bei diesem zukunftsweisenden Digitalprojekt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in gewissem Sinne zukunftsweisend ist auch die neue Richtlinie für die koordinierte und strukturierte Versorgung schwer psychisch erkrankter Erwachsener, die der Gemeinsame Bundesausschuss kürzlich beschlossen hat. Bei dieser Komplexversorgung sollen verschiedene Berufsgruppen in regionalen Netzwerken zusammenarbeiten.
In langwierigen und schwierigen Verhandlungen mit der Kassenseite ist es der KBV gelungen, neben Ärztinnen und Ärzten auch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten als Bezugspersonen zu etablieren. Sie sind damit verantwortlich für den individuell zugeschnittenen Behandlungsplan, der ärztliche, psychotherapeutische, pharmakologische, pflegerische und weitere therapeutische Maßnahmen vereint.
Auch wenn der Kompromiss Einschränkungen beinhaltet, so ist es aus unserer Sicht doch ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung von Ärzten und Psychotherapeuten bei der Versorgung psychisch Kranker. Insofern könnte das Ergebnis als Blaupause dienen für andere komplexe Krankheitsbilder und deren Versorgung in interprofessionellen Verbünden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ein harter und frustrierender Verhandlungsbrocken war– wenig überraschend – auch die Gespräche mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) über die Anpassung der Vergütungsbestandteile für das kommende Jahr. Von „Honorarverhandlungen“ will ich an dieser Stelle gar nicht reden, dieser Terminus ist missverständlich.
Das Gesetz sieht konkret ja nur eine Art Werterhalt vor. Schwierig war es nicht nur wegen der engen gesetzlichen Vorgaben, unter denen die Gespräche stattfinden, sondern auch aufgrund des pandemiebedingten Defizits, auf das die Krankenkassen gebetsmühlenartig verweisen.
Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass die finanziellen Rahmenbedingungen durch Corona schwierig sind. Dass allerdings ausgerechnet bei denjenigen gespart werden soll, die die Pandemie gestemmt haben, ist inakzeptabel. Der ambulante Schutzwall hat doch gerade dazu beigetragen, viele teure Krankenhauseinweisungen zu vermeiden.
Ich wiederhole: 13 von 14 Covid-19-Patienten wurden ambulant behandelt! Davon haben auch die Krankenkassen profitiert. Es war kassenseitig ein absolut fatales Signal, die Praxen gerade jetzt mit einer Nullrunde abspeisen zu wollen. Diese geforderte Nullrunde dann auch noch als Entgegenkommen zu bezeichnen, weil man eigentlich absenken wollte, ist dann allerdings nur noch unverschämt.
Deshalb ist dieses mit knapper Mehrheit gegen das Kassenlager erreichte Ergebnis mit einer Steigerung des Orientierungswertes von knapp 1,3 Prozent akzeptabel. Akzeptabel aber nur unter Berücksichtigung der gesetzlich engen Rahmensetzung.
Was es aber auch deutlich zeigt, ist, dass die Mechanismen des Fünften Sozialgesetzbuches in der vorliegenden Form völlig ungeeignet sind, tatsächlich auch nur einen Werterhalt zu gewährleisten. Realiter verschlechtert sich die finanzielle Situation der Praxen jedes Jahr ein klein wenig, weil Effekte zeitverzögert und unvollständig berücksichtigt werden.
So wird die Tariflohnsteigerung der Medizinischen Fachangestellten die Praxen in diesem Jahr treffen, aber erst im nächsten Jahr in die Anpassung des Orientierungswertes einfließen.
Es leuchtet jedem ein, dass das nicht funktionieren kann.
Wir brauchen deshalb neue gesetzliche Regelungen, um die Praxen, die unverzichtbar für die Versorgung der Menschen sind, arbeitsfähig und wirtschaftlich überlebensfähig zu halten. Das muss die nächste Bundesregierung, wie sie auch immer aussehen mag, leisten.
Oder sie muss die Verantwortung dafür tragen, dass die Menschen in unserem Land zukünftig schlechter versorgt werden. Wir brauchen keine Bürgerversicherung, die keins der Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung löst, sondern wir brauchen eine solide Finanzierungsgrundlage für die Praxen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die vergangenen anderthalb Jahre haben gezeigt, wie ein gesundheitspolitischer Ausnahmezustand zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung werden kann. In zehn Tagen wählt Deutschland eine neue Regierung, und noch ist völlig unklar, wie diese am Ende aussehen wird. Gleiches gilt für die künftige Besetzung des Gesundheitsressorts.
Es ist gut möglich, dass wir langwierige Koalitionsverhandlungen erleben werden mit einer entsprechenden Übergangszeit. Doch ganz egal, wer schließlich die gesundheitspolitische Verantwortung in diesem Land trägt, eines können wir ihr oder ihm jetzt schon mit auf den Weg geben: Ohne eine auskömmliche Finanzierung der ambulanten – und natürlich auch der stationären – Versorgung geht es nicht!
Man kann über vieles streiten, aber dass die Gesundheit das Letzte ist, woran man sparen sollte, hat nicht zuletzt die Pandemie gezeigt. Dabei lohnt es sicher, manches neu zu denken, etwa die Zusammenarbeit zwischen Niedergelassenen und Krankenhäusern oder auch mit anderen Gesundheitsfachberufen.
Wir brauchen eine Anpassung der Versorgungsstrukturen an den wachsenden Bedarf der Bevölkerung bei gleichzeitig zurückgehenden ärztlichen Ressourcen. Dabei helfen uns die neuen medizinischen Möglichkeiten, Stichwort Ambulantisierung.
Wir brauchen den Ausbau ambulanter Versorgungsangebote bei gleichzeitiger Entlastung der Kliniken von eigentlich ambulant leistbaren Behandlungen. Dazu gehört aber auch eine sachgerechte Vergütung. Das hat sich bereits im internationalen Vergleich gezeigt.
Infolge des Gesetzes zur Reform des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK-Reformgesetzes) verhandeln wir derzeit mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem GKV-Spitzenverband einen Katalog ambulant durchführbarer Operationen und sonstiger stationsersetzender Eingriffe und Behandlungen sowie eine einheitliche, nach dem Schweregrad differenzierte Vergütung für Krankenhäuser und Vertragsärzte.
Die KBV ist offen, dafür die Impulse des MDK-Reformgesetzes zur Ambulantisierung zu nutzen und neue Konzepte auch für konservative Behandlungen zu entwickeln. Damit diese gelebt werden können, muss jedoch zunächst der Status quo verbessert werden. Uns als KBV geht es bei der Umsetzung darum, keinen dritten Sektor, sondern einen sektorverbindenden Bereich zu schaffen, der so vergütet wird, dass er auch funktioniert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
diese zukunftsorientierte Gesundheitsversorgung fordern wir auch von der neuen Bundesregierung mit Nachdruck ein; wichtige Impulse liegen in Form unserer Positionen zur Bundestagswahl und in Form unseres gemeinsamen Papiers „KBV 2025“ auf dem Tisch.
Wogegen wir uns aber entschieden zur Wehr setzen werden, ist, wenn Politik oder andere Akteure gegen vertragsärztliche Interessen agieren. Sei es, indem Ambulantisierung nur als Einbahnstraße aus der Klinikperspektive gedacht wird oder wenn Apotheker plötzlich genuin ärztliche Aufgaben übernehmen sollen. „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“, kann ich da nur sagen.
Es gibt genug, womit sich die Vor-Ort-Apotheken gegenüber dem Versandhandel, dem das elektronische Rezept gerade ein Scheunentor öffnet, profilieren können. Dafür müssen sie nicht die Rolle des ärztlichen Kümmerers übernehmen. Das können die Niedergelassenen selbst am besten – wenn man sie nur lässt.
Vielen Dank!