Bericht von Dr. Thomas Kriedel an die Vertreterversammlung
Sitzung am 4. März 2022
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
auch von mir ein herzliches Willkommen zu dieser Vertreterversammlung (VV) – in solch bedrückenden Zeiten, in denen nicht zuletzt auch digitale Mittel genutzt werden, um Gesellschaften und politische Systeme anzugreifen und zu erschüttern.
Entsprechend sorgsam – das mahnen uns auch die russischen Cyber-Attacken gegen die Ukraine – müssen wir auch im Gesundheitswesen jede einzelne Datenschutzabwägung treffen, die bei sämtlichen Fortschritten in der Telematikinfrastruktur (TI) anfallen.
Zunächst aber freue auch ich mich, dass wir diese Sitzung gestern Abend einläuten konnten mit Antworten des Bundesgesundheitsministers auf Fragen aus den Praxen und aus der Vertreterversammlung.
Denn gerade in dem Jahr, in dem die Vertragsärztinnen und -ärzte sowie -psychotherapeutinnen und
-psychotherapeuten ihre Vertreterinnen und Vertreter in die VVen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) wählen, sollten wir auch nach außen zeigen, wie wir funktionieren: als legitimierte Vertretung der vertragsärztlichen und -psychotherapeutischen Praxen, selbstverwaltet und engagiert tätig, als Sprachrohr für die Sorgen und Anliegen der Praxen in Richtung Politik.
Dazu zählt aktuell auch die Digitalisierung, zu der gut 60 Ärtinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aus ganz Deutschland ihre Fragen an den Bundesgesundheitsminister eingereicht hatten. Sie schildern alltägliche Work-Arounds um Fehler und Ausfälle der Anwendungen der Telematik-Infrastruktur herum.
Eine Gynäkologin aus Köln schreibt: „Die Praxisabläufe sind empfindlich gestört, die Versorgung teils eingeschränkt, das Verständnis seitens der Patienten ebenfalls.“
Und eine Hausärztin aus Halberstadt schreibt, sie sei entrüstet über die Arbeitsweise der gematik, das schleppende, schleichende Fortschreiten der TI-Anbindung und die seit Jahren unzureichenden Lösungen der Umsetzung in die Praxis. Diese Aussagen sind stellvertretend für viele andere.
Sie alle bewegen sich zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung bis hin zu Entsetzen. Enthusiasmus für das Potenzial der Digitalisierung in der Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten.
Und Enttäuschung sowie Entsetzen über diese „überhastete und völlig fehlgeplante Zwangsdigitalisierung“, die Unsummen verschlinge und die niedergelassene Ärzteschaft den großen Software-Unternehmen ausliefere.
Konkretes Beispiel: Ein Münchener Hausarzt in einer größeren Gemeinschaftspraxis hat neulich in der Ärztezeitung geschildert, dass der Konnektor nicht mit dem Praxisverwaltungssystem (PVS) kompatibel ist.
Das zweite verfügbare Konnektor-Modell wurde deshalb bestellt – es brachte das komplette System der Praxis zum Erliegen. Somit bleibt nur noch das Modell des dritten Herstellers. Das ist aber nicht lieferbar – frühestens in etlichen Monaten.
Dass wir schon längst viel weiter sein könnten, belegt ein Allgemeinmediziner aus Bretten in Baden-Württemberg: „Wir arbeiten schon seit vielen Jahren mit digitalen Lösungen, die uns die Arbeit erleichtern.“
Damit spricht er den Selbstläufer-Effekt an, den auch Petra Reis-Berkowicz jüngst in Bezug auf den Petitionsausschuss zu Recht postuliert hat: Wenn die Technik durchdacht, anwender- und versorgungsorientiert ist und die Versorgung einfach verbessert und unterstützt, dann ist die digitale Transformation ein Selbstläufer.
Stattdessen aber unausgegorene und kurzsichtige Technik, die politisch so schlecht geplant wurde, dass sie ständig über ihre eigenen Füße stolpert und mit Sanktionen durchgedrückt werden soll. Die Technische Universität (TU) Braunschweig resümiert den Politikstil unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn so:
„Insgesamt dienten die Reformen vor allem dazu, neue Instrumente einzuführen oder Themen im Allgemeinen durchzusetzen, wie ‚die Digitalisierung‘, ohne dafür konkrete gesundheitspolitische Ziele oder zu lösende Probleme in den Blick zu nehmen.
“ Man könnte es auch so zusammenfassen: purer Aktionismus ohne Versorgungsziel und Richtung. Wie groß darüber Unmut und dringender Handlungsbedarf sind, zeigt auch die Vielzahl der Anträge und Resolutionen rund um die Digitalisierung heute in dieser VV.
Gestern Abend versprach der neue Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach – auch in der Digitalisierung – einen anderen Politikstil und einen Neuanfang. Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und elektronischs Rezept (eRezept) habe er wegen ihrer Unreife gestoppt.
Die elektronische Patientenakte (ePA) wiederum solle endlich im Versorgungsalltag ankommen. Den erforderlichen Schwung – das ist seit vergangener Woche bekannt – soll Susanne Ozegowski bringen, als neue Leiterin der Abteilung 5 für Digitalisierung und Innovation. Die erfahrene IT-Expertin wechselt von der Kassenseite ins Ministerium.
Wir wünschen Frau Ozegowski für diese zweifelsohne große Aufgabe viel Erfolg und bieten unsere Zusammenarbeit an. Denn ihre Erfahrungen aus Perspektive der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind gewiss wertvoll. Bemerkenswert ist aber, dass aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zu hören ist, mit der Neubesetzung werde nun neben der Patienten- auch die Anwenderseite in den Blick genommen.
Diese Anwendungssicht darf sich nicht allein auf die GKV-Perspektive beschränken. Sie muss eben auch die Anwendbarkeit in den Praxen berücksichtigen. Das halten wir für unverzichtbar, um die TI endlich zum Erfolg zu führen.
Entsprechend begrüßen wir den im Koalitionsvertrag angekündigten – und gestern von Minister Lauterbach bestätigten – Kurswechsel hin zu einer versorgungszentrierten Digitalisierung sowie zum Abbau von Bürokratie in den Praxen. Formulare elektronisch zu machen, das allein zählt gewiss nicht dazu.
Und da hat sich auch gezeigt: Die Formulardigitalisierung – bisher ein Schwerpunkt – hat noch nicht einmal eine Arbeitsersparnis gebracht.
Wir stehen bereit, um konstruktiv mitzuwirken und Impulse aus der Praxis zu liefern – auch, um zu erörtern, wie relevant für die Versorgung und wie praxistauglich das ist, was die Politik plant. Etwa in Pilotregionen von KVen oder in Arztnetzen.
So begrüßen wir zudem die Ankündigung der Ampel, regelmäßig mit den jeweiligen Stakeholdern „Praxis-Checks“ für Gesetzesvorhaben durchzuführen. Dabei muss es aus unserer Sicht gerade auch darum gehen, Bürokratielast durch und bei Gesetzen abzubauen – im Rahmen eines „Bürokratie-Checks“. Hier sehen wir den Nationalen Normenkontrollrat in seiner Neutralität als wichtige und richtige Instanz.
Darüber hinaus hat die Ampelkoalition einen so genannten „Digital-Check“ angekündigt – zur „Möglichkeit der digitalen Ausführung“ von Gesetzgebungsvorhaben. Konkret heißt das aus unserer Sicht beispielsweise, dass schon vor Verabschiedung eines Gesetzes geklärt ist, dass die elektronische Version eines Prozesses Zeit spart und nicht Zeit kostet.
Das Ausdrucken der eAU darf nicht – wie wir aktuell aus den Praxen hören – viermal so lange dauern, wie das Ausdrucken der klassischen Papier-AU.
Die Gesundheitspolitik muss die Digitalisierung klar einnorden auf Ziel und Zweck des Gesundheitswesens, also auf die Versorgung. Nur so kann sie der gematik einen festen Kurs für die Umsetzung vorgeben. Auch müssen zeitnah spürbare Erfolge her, die sich positiv auf die Akzeptanz auswirken.
Für die Akzeptanz entscheidend sind drei Dinge. Erstens, ein deutlicher Nutzen; zweitens, Praxen frühzeitig einzubinden; und drittens, die Übernahme der Betriebsverantwortung durch die gematik – gegebenenfalls auch in der geplanten Form einer Agentur. Wenn es die gematik schon gibt, dann muss sie vollumfänglich die Verantwortung übernehmen und dieser gerecht werden. Hierzu werden Sie heute ja auch über eine Resolution abstimmen.
Das heißt konkret unter anderem, die einzelnen Geräte nicht nur einzeln – also isoliert – zu testen und zuzulassen, sondern auch im Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten – beispielsweise also elektronische Gesundheitskarte (eGK) und Kartenlesegerät zusammen.
Warum wird das nicht längst schon so getestet? Zugegeben, das ist nicht trivial. Aber auch nicht neu, sondern einfache Mathematik: Bei rund 120 Praxisverwaltungssystemen in Deutschland in Kombination mit drei Konnektor-Modellen und zwei Kartenterminals sowie sieben KIM-Diensten kommen wir auf sage und schreibe 5.040 Kombinationsmöglichkeiten allein in den Praxen! Das ist die Marktrealität, der man sich stellen muss.
Allein beim eRezept sind noch die Mobilgeräte der Patientinnen und Patienten einzurechnen sowie die eRezept-App, auch der Rezeptserver und die Apotheken-Systeme, die Apothekenrechenzentren und die 97 Krankenkassen – mit jeweils deren Vielfalt an technischer Ausstattung. Und schließlich – beim so genannten elektronischen Entlass-Rezept – die Krankenhäuser mit ihren verschiedenen Informationssystemen. Alles muss interoperabel sein und sektorenübergreifend funktionieren.
Kommen nach dem eRezept, wie geplant, weitere Anwendungen hinzu, kommen weitere Player hinzu. Bei der eAU sind es die Arbeitgeber, bei der ePA beispielsweise Hebammen, Altenpfleger und Physiotherapeuten. So steigt die Komplexität entsprechend weiter.
Deshalb brauchen wir eine übergeordnete Instanz, die das koordiniert, prüft und gewährleistet – sinnvollerweise die gematik. Sie müsste dann entsprechend ihre Testarchitektur an diese Komplexität anpassen; auch bei den Mengengerüsten. Alles ist in repräsentativer und belastbarer Dimension zu testen.
Sind die Produkte zugelassen und auf dem Markt, und gibt es später Hinweise auf Abweichungen von den Zulassungsvoraussetzungen, dann muss die gematik dem umgehend nachgehen. Und falls sich der Verdacht bestätigt, muss sie eingreifen.
Die gematik-Zulassung muss als verlässliches Gütesiegel dienen – und bei Mängeln entzogen werden. Darauf haben wir mehrfach gepocht; zuletzt in dieser Woche in der Gesellschafterversammlung und nochmals per Brief an die gematik.
Was wir dort zuvor schon durchgesetzt haben: unter anderem stets aktuelle Informationen über auftretende Störungen sowie über den Verbreitungsgrad und Fortschritt der TI-Komponenten und Anwendungen. Hier ein Überblick über unsere wichtigsten Initiativen, die auch jeweils die aktuellen Probleme widerspiegeln.
Beispielsweise im Zusammenhang mit den sprichwörtlichen Spannungen, zu denen die Erfahrungen mit manchen der neuen NFC-tauglichen eGK (NFC = Near Field Communication) in Kombination mit gewissen Kartenlesegeräten geführt haben.
Über dieses groteske Problem der elektrostatischen Entladung haben wir uns bereits reichlich ausgetauscht und auch öffentlich geäußert. Technisch zeichnet sich nun eine Lösung ab, wohl ab April mit einem Aufsatz für die Kartenlesegeräte.
Ein Kartenslot auf dem Kartenslot also. Das ist Flickschusterei! Aber offenbar die schnellste und nachhaltigste Lösung. Wir wollen weiteren Ärger aus den Praxen fernhalten. Deshalb haben wir mit Nachdruck gefordert, dass diese Slots schnell, unaufgefordert und in benötigter Stückzahl in die Praxen kommen, und zwar kostenfrei und ohne Vorleistung durch die Praxen.
Unser Vorschlag, dies einheitlich über die gematik zu lösen, wurde in der Gesellschafterversammlung abgelehnt. So müssen wir jetzt zwangsläufig mit dem GKV-Spitzenverband verhandeln. Damit haben wir schon begonnen – obwohl zuvor die Frage in den Raum gestellt wurde, weshalb die gesetzlich Krankenversicherten für den Schaden aufkommen sollen.
Ganz unjuristisch formuliert: Es handelt sich hierbei im Grunde um eine Reparatur. Somit müsste eigentlich der kosten- und aufwandsfreie Ersatz selbstverständlich sein – und zwar durch denjenigen, der den Fehler zu verantworten hat.
Alle Komponenten waren zugelassen! Die Praxen brauchen jetzt schnell Abhilfe. Denn nach wie vor werden jeden Monat etwa zwei Millionen dieser neuen eGKs in den Markt gepumpt. Damit wird das Problem immer größer, nicht kleiner. Die gematik muss ihre Aufgaben erfüllen!
Jüngster Fall: Schlagzeilen über Konnektoren, die Patientendaten loggen. Was einem dabei die Schuhe auszieht: Der Bundesdatenschutzbeauftragte will dafür den Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die Schuld in die Schuhe schieben.
Hier kennt die Absurdität scheinbar keine Grenzen. Die Praxen sind nicht dafür verantwortlich, was im Konnektor passiert. Das können sie auch gar nicht sein. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass alle Geräte, die ihnen gesetzlich aufgedrückt werden, die Daten ihrer Patientinnen und Patienten schützen. Erst recht beim Konnektor, mit seiner offiziell zugelassenen Grundsicherheitsfunktion.
Ich muss es in aller Deutlichkeit sagen: Wie die Ärztinnen und Ärzte sowieo Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, habe auch ich es satt, dass die Nachlässigkeiten, Probleme und Fehler anderer ständig bei uns und in den Praxen abgeladen werden.
Wir haben umgehend eine Klarstellung von der gematik eingefordert. Diese hat zwischenzeitlich mitgeteilt, sie teile in keiner Weise die Einschätzung der in der Berichterstattung suggerierten Bedrohlichkeit für den Datenschutz.
Es werde ein Konnektor-Update geben, das den Fehler behebt. Vermutlich nicht vor April. Die Praxen können demnach auch bis dahin ihren Konnektor ganz normal weiterbetreiben. Denn die Verantwortung der Praxen endet am Konnektor; nicht im Konnektor. Das haben wir mit Nachdruck bekräftigt.
Auch aus einem anderen Grund ist das Stichwort Konnektor nicht erst heute ein Reizwort. Sie alle wissen, im Herbst schalten sich die ersten aktuell in Gebrauch befindlichen Konnektoren ab. Die gematik hatte mit ihrem Konzept der TI 2.0 als fortschrittliche Alternative Software-Lösungen in Aussicht gestellt, um die längst veraltete Konnektor-Technik abzulösen.
Wie die Dinge liegen, wird die TI 2.0 allerdings frühestens in zwei bis drei Jahren an den Start gehen. Deshalb hat die gematik in dieser Woche angekündigt, dass faktisch vorerst nur die Möglichkeit bleibt, die Hardware durch Hardware auszutauschen, also Konnektoren gegen Konnektoren. Eine gigantische Menge an Elektroschrott; und leider wohl auch technischer Stillstand.
Entweder bedeutet das für die Gesundheitsfachberufe, die längst darauf warten, endlich an die TI angeschlossen zu werden, noch länger warten zu müssen oder es bedeutet für die gesetzlichen Krankenkassen, dass sie ein Mehrfaches bezahlen müssen, für die deutlich teureren Hardware-Konnektoren, im Vergleich zur kalkulierten Software-Anbindung von Pflegefachkräften oder Hebammen an die TI.
Auch der Austausch der Hardware-Konnektoren in den Praxen von Vertragsärztinnen und -ärzten sowie -psychotherapeutinnen und -psychotherapeuten werden deutlich zu Buche schlagen. Das in die Verhandlungen über die Finanzierung einzubringen, war bislang nicht möglich, da wir noch auf die offizielle Festlegung warten mussten. Nun ist sie da. Und auch hierfür erwarten wir eine vollumfängliche Finanzierung.
Beim Stichwort Finanzierung noch ein paar Sätze zum laufenden Schiedsverfahren. Davon erwarten wir eine klare Aussage dazu, dass auch Ersatzbedarf zu finanzieren ist, wie im Übrigen bei technischen Defekten. Wenn inhaltlich im Gesetz steht, die Betriebskosten sind abgedeckt, dann gehört für mich als Ökonom dazu, dass das auch Abschreibungen umfasst.
Das haben wir mit unserem Schiedsamtsantrag eingebracht; zusammen mit der Korrektur der bisherigen Unterdeckung der TI-Kosten, die Sie in Ihrem Beschluss in der letzten VV im Dezember zu Recht moniert hatten. Dass wir dies in die Verhandlungen eingebracht haben, hat auch zum Scheitern geführt, weswegen wir das Schiedsamt anrufen mussten. Der Termin steht Ende März an.
Der zusätzliche Ärger über die mangelnde Finanzierung potenziert den Ärger über die mangelnde Technik. Faktisch stört diese Digitalisierung die Versorgung. Und ich wiederhole vorsichtshalber noch einmal: Ich meine diese Art der Digitalisierung der Vorgänger-Regierung.
Sie stört die Versorgung in den Praxen: eine Milliarde Patienten-Kontakte, mehr als eine halbe Milliarde Behandlungsfälle in mehr als 100.000 Praxen, in denen mehr als 180.000 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit den rund 330.000 Medizinischen Fachangestellten die ambulante Versorgung stemmen – pro Jahr.
Das ist enorm. Umso mehr gebührt unser Respekt und Dank allen von Ihnen hier im Saal und überall in den Praxen, die Sie – neben der Pandemie – auch diese Digitalisierungsplage meistern. Das belegt eindrucksvoll eine Blitzumfrage, die wir im Januar durchgeführt haben.
So arbeiten beispielsweise von mehr als 5.000 Praxen rund 40 Prozent schon mit der eAU-Technik, obwohl bei nur 13 Prozent der elektronische Versand auch tatsächlich vollständig funktioniert. Es scheitert unter anderem am KIM-Dienst.
Bei einem Viertel aller Praxen konnte das PVS-Update noch gar nicht installiert werden.
Im jüngsten PraxisBarometer Digitalisierung wiederum erweist sich die Störanfälligkeit als größter Störfaktor – im täglichen Doing ebenso wie in der Beurteilung der bisherigen Digitalisierung.
Wen wundert´s? Innerhalb von 13 Monaten summierten sich die Ausfälle auf annähernd 4.000 Stunden!
Genau deshalb ist der im Koalitionsvertrag angekündigte Kurswechsel so dringend. Und auch deshalb werden wir die neue Bundesregierung tatkräftig dabei unterstützen, diesen Kurswechsel zu vollziehen – hin zu einer guten Digitalisierung, die allen dient und die Versorgung weiter verbessert.
Dazu wollen wir den Austausch mit den Praxen und unseren versorgungsorientierten Ansatz weiter vertiefen – beispielsweise mit Panel-Praxen. Ihre Rolle ist dabei, die vorhandenen Defizite zu diagnostizieren. Die dazu passenden Lösungen werden dann von den IT-Fachleuten gefunden.
Dabei ist Ehrlichkeit ganz zentral. Digitalisierung ist kein Allheilmittel, das alles besser macht. Hier gilt es also, im Sinne der Versorgung zu unterscheiden.
Erste griffige Ansätze für die genannten Kurskorrekturen haben wir schon. Beispielsweise eine Testumgebung für neue Anwendungen – ohne Sprechstundendruck mit Patientinnen und Patienten in der Praxis. Oder ein First-Level-Support für alle Praxen, der bei Störungen umgehend feststellt, an welcher Komponente es konkret hakt und Abhilfe schafft.
Oder eine digitale und damit für Ärztin und Arzt sowie Patientin und Patient einfachere Einschreibung in Disease-Management-Programme (DMP). Bei den DMP ist – nebenbei bemerkt – auch ganz analog ein weiteres Problem zu lösen: Sie laufen ins Leere, weil die regionalen Krankenkassen keine Verträge schließen. Auch das muss sich ändern.
Ein weiteres Beispiel für eine sinnvolle Kurskorrektur im Sinne der Versicherten wäre eine elektronische kinderärztliche Bescheinigung für den Bezug von Krankengeld für die Eltern – gerade, wenn keine ärztliche Behandlung in der Praxis erforderlich ist. Und wir haben noch weitere Themenkomplexe identifiziert, in denen Digitalisierung sinnvoll wäre.
Noch ein paar Worte zu bereits losgetretenen Projekten: Das eRezept wird erst dann flächendeckend eingeführt, wenn es sich reibungslos anwenden lässt – das hat Staatssekretärin Sabine Dittmar im Petitionsausschuss bekräftigt. Und gestern hat Karl Lauterbach dies bestätigt.
Wir plädieren bei allen Anwendungen für eine Abkehr von fixen und rein theoretischen Fristen und stattdessen für einen Vorrang des Funktionsnachweises vor einem Datum. Auch hierzu werden Sie heute ja noch über einen Antrag abstimmen.
Zielführend sind dabei so genannte Quality Gates – eine weitere der zahlreichen Verbesserungen, die wir in der gematik-Gesellschafterversammlung erzielt haben. Entsprechend haben wir erreicht, dass mindestens 30.000 eRezepte die festgelegten Qualitätsprüfsteine erfolgreich passieren müssen, ehe diese Anwendung flächendeckend in den Praxen ausgerollt wird.
Doris Pfeiffer, die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, hat angemahnt, jetzt nicht nachzulassen beim Vorantreiben der Digitalisierung. Sie forderte zugleich eine ehrliche Fehlerkultur. Das halte auch ich für unverzichtbar, wenn wir wirklich vorankommen wollen.
Wir müssen weg von Schönfärberei, hin zu einer Kultur des routinierten und aufrichtigen Realitätschecks. Darauf haben wir in der Vergangenheit vielfach gedrängt – wie mit den fortlaufenden Statusmeldungen der gematik. Wir müssen weg vom Blame-Game und Finger-Pointing.
Wir müssen jedoch auch sagen dürfen, dass etwas nicht funktioniert, wenn es nachweislich nicht funktioniert. Und wir müssen damit Gehör finden. Rechtzeitig.
Zur offenen Fehlerkultur gehört in diesem Zusammenhang zugleich eine offene Entscheidungskultur: Wenn das BMG weiterhin mit einer 51-Prozent-Mehrheit alle Entscheidungen in der gematik im Alleingang treffen kann, dann sollte es mit der gematik auch dazu stehen, anstatt wie in den zurückliegenden Jahren so zu tun, als ob es sich in der Gesellschafterversammlung um Entscheidungen handle, die alle mittragen können.
Aus der gematik auszutreten, ist gesetzlich derzeit nicht möglich. Solche Gedankenspiele zeigen aber das Ausmaß des entstandenen Unmuts. Der TI-Dampfer hat vielleicht noch nicht Schiffbruch erlitten, aber ist zumindest in Untiefen geraten und auf ein Riff aufgelaufen.
Wir können ihn da nur rausmanövrieren, wenn wir jetzt – gemeinsam und auf Augenhöhe – analysieren. Die einen nennen es Moratorium, die anderen Konsolidierungsphase. Man könnte es auch Inventur nennen. Gemeint ist: Schauen, was sich bewährt hat, über Bord werfen, was sich als unbrauchbarer Ballast herausgestellt hat, und klar Kurs nehmen auf eine sinnvolle und effektive Digitalisierung im Sinne der Versorgung.
Zweifelsohne ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um kurz innezuhalten und zu bilanzieren – und dann die richtigen Lehren aus dem Bisherigen zu ziehen. Darauf setzen wir mit der neuen Bundesregierung.