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Reden

Bericht von Dr. Thomas Kriedel an die Vertreterversammlung

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
auch von mir ein herzliches Guten Morgen in dieser Vertreterversammlung hier in Bremen.

Andreas Gassen und Stephan Hofmeister haben die beiden großen Krisen dieser Zeit thematisiert: die Pandemie und den russischen Krieg gegen die Ukraine.

In den Praxen nehmen wir aber schon seit einer Weile eine dritte Krise wahr, die sich immer weiter zuspitzt: Das Debakel um die Telematik-Infrastruktur (TI). Selbstverständlich ist die Digitalisierung nicht mit einer globalen Pandemie oder einem Krieg gleichzusetzen.

Was aber das Ausmaß des Drucks, des Ärgers und der Hilflosigkeit angeht, ist das Krisengefühl virulent. Ebenso wie Wut und Enttäuschung ob der vielen gebrochenen Versprechen von Politik und gematik. Andreas Gassen hat auch das schon skizziert.

Wir haben den Moment einer Zäsur erreicht: Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz – und für das Lernen aus den daraus gezogenen Lehren, gefolgt von entsprechenden Veränderungen.

Diese müssen – so viel sei schon vorweggenommen – einerseits die akuten Baustellen beseitigen; und dies – wie man im Management-Deutsch so gerne sagt – „asap“. Zudem brauchen wir tiefgreifende Kurskorrekturen, die erst perspektivisch wirken werden, aber ebenfalls jetzt schon dringend angepackt werden müssen. 

Für beides haben wir klare Vorstellungen, die ich hier skizzieren möchte. Zunächst aber die Frage: Wie also fällt die Inventur aus? Beschlossen wurde die TI im Jahr 2004 – mit dem GKV-Modernisierungsgesetz.

Das ist 18 Jahre her. Die TI ist also zumindest nach Jahren volljährig! Faktisch steckt sie aber noch in den Kinderschuhen – wenn wir mal die Checkliste durchgehen:

Das Notfalldaten-Management ist faktisch kein Thema, weil kaum eine Patientin oder ein Patient danach fragt. Die gesetzlich Krankenversicherten müssten sich aktiv eine PIN von ihrer Krankenkasse holen. Das wissen sie aber gar nicht. Das Gleiche gilt für den elektronischen Medikationsplan.

Und die dazwischen eingeführte Pflichtanwendung – das Versichertenstammdatenmanagement – ist eine reine Dienstleistung für die gesetzlichen Krankenkassen, ohne jegliche Verbesserung in der Versorgung.

Der elektronische Arztbrief (eArztbrief) – dereinst von den Praxen mit großer Hoffnung erwartet – ist nur sehr eingeschränkt nutzbar. Grund sind technische Probleme – etwa mit den KIM-Diensten – beziehungsweise fehlende Praxisverwaltungssystem-Module und mangelhafte Integration.

Damit sind wir schon bei der nächsten Anwendung in der TI-Chronologie: die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Fast die Hälfte der Praxen setzt die eAU ein – aber nur 13 Prozent davon können dies vollständig digital und ohne analoge Umwege.

Das hat unsere Befragung Ende April ergeben, an der knapp 6.000 Praxen teilgenommen haben. Sie werden gehindert durch TI-Probleme wie abstürzende Konnektoren, durch fehlende Software-Updates und durch fehlende KIM-Dienste. Und bei all dem fehlen Technik-Ansprechpartner. Kaum jemand bietet Unterstützung, weder die Hersteller noch die gematik.

Und da sind wir auch schon bei der nächsten Pflichtanwendung: der elektronischen Patientenakte (ePA). Hier bewegen wir uns in mikroskopischen Sphären: gerade einmal 0,6 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten verfügen über eine ePA.

Sie gilt als nutzerunfreundlich und vor allem: Die wenigsten Versicherten kennen überhaupt ihren Rechtsanspruch darauf. Oder aber sie haben Angst um ihre Daten.

Schließlich noch das elektronische Rezept (eRezept): auch hier Akzeptanzprobleme bei den Patientinnen und Patienten. Vor allem aber stellen wir fest: Das eRezept steckt noch im Erprobungsstadium.

Nur wenige Praxen probieren das eRezept aus. Nach jüngsten Meldungen sind es keine 250 Praxen insgesamt. Allerdings: Die Hälfte der bisherigen erfolgreichen eRezepte stammen aus zwei Praxen.

Auf die positiven Rückmeldungen dieser zwei Praxen stützt die gematik ihre positive Bilanz vom eRezept-Test und behauptet gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), dass es im Spätsommer mit dem Rollout losgehen kann.

Das ist eine grob fahrlässige Quote, auf die man sich da stützt: 0,0019 Prozent, gemessen an der Gesamtzahl der Praxen.

In einer Pressemitteilung am vergangenen Mittwoch stellt die gematik fest: „Die bundesweite Testphase zeigt, dass das Ausstellen, Einlösen und Abrechnen des eRezepts dort, wo die technischen Voraussetzungen gegeben sind, problemlos funktioniert.“

Aber genau das ist doch das Problem, liebe gematik. Die technischen Voraussetzungen sind in der Fläche nicht gegeben. 

Praxen, die mit dem eRezept Versuche gestartet haben, melden uns Probleme mit dem Versand. Auch hier erleben die Praxen mangelhafte Erreichbarkeiten der IT-Dienstleister und Anbieter sowie der gematik; und sie berichten, dass die Patientinnen und Patienten Probleme melden beim Einlösen in den Apotheken – wenn sie denn überhaupt eine Apotheke gefunden haben, die ein eRezept annehmen kann.

Auf der anderen Seite: Die, die das eRezept noch nicht anwenden, tun dies vielfach auch deshalb nicht, weil ihnen ihre IT-Dienstleister davon abraten – wegen technischer Bedenken. Das sind unwiderlegbare Fakten. Da sollte sich die gematik solche irrlichternden Pressemitteilungen einfach verkneifen.

Dennoch hören wir: Man wolle das eRezept mit Hochdruck noch im Spätsommer ausrollen. Bislang wurden laut gematik knapp 20.000 eRezepte abgerechnet.

Das sagt nichts darüber aus, mit welchem Grad an Improvisation und Zeitaufwand das geschehen ist. Sprich: wie praxistauglich das eRezept im Alltag sämtlicher Fachrichtungen mit allen Praxisverwaltungssystemen (PVS) und Apotheken und Kassen tatsächlich ist.

Genau das aber gehört in die Analyse der Testphase hinein. Und zwar für die Tests in freiwilligen Pilotregionen. Die bundesweit verpflichtende Einführung kommt dabei erst dann in Frage, wenn das eRezept in diesen freiwillig testenden KV-Regionen nachweislich vollständig funktioniert. Also: Keine parallele Einführung des eRezeptes, solange die Tests in den Pilotregionen noch laufen!

Deshalb haben wir diese Analyse so gefordert – und in der Gesellschafterversammlung (GSV) auch vereinbart. Aber: Diese Testphasenanalyse fehlt noch, weswegen naturgemäß auch die darauf aufbauenden Rollout-Voraussetzungen erst noch gemeinsam festzulegen sind.

Herr Leyck-Dieken aber verwechselt da etwas – und setzt Test und Rollout gleich. Das zeigt, dass er das Problem – noch immer – nicht verstanden hat.

Wir werden dazu in die Gesellschafterversammlung der gematik unser Test-Konzept einbringen. Und anstatt die gematik zu kontrollieren und zu führen, lässt das BMG sie realitätsfern agieren: im Wolkenkuckucksheim, wie Andreas Gassen schon gesagt hat.

Der Modus scheint, das habe ich in der jüngsten Zeit schon mehrfach so beschrieben, „Augen zu und durch“, komme was wolle. Deshalb haben wir uns in der letzten GSV erfolgreich dagegengestemmt, dass über die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) hinweg ein Rollout beschlossen wird, der nach unserer Einschätzung gar nicht funktionieren kann.

Das ist mit den etwas mehr als 7 Prozent Stimmanteil mühsam, keine Frage. Aber wir sind nun einmal von Rechts wegen Gesellschafter in der gematik und wir nehmen unsere Verantwortung dort verdammt ernst.

Im Gegenzug erwarten wir, dass unsere Kenntnis der Situation in den Praxen ebenso ernst genommen wird.

Das Problem: Die Politik fasst unsere Analysen und darauf gründende Kritik überwiegend als Verweigerung auf. Und das, obwohl keine andere Berufsgruppe im Gesundheitswesen auch nur im Ansatz so weit ist bei der Integration in die TI, wie die Vertragsärzteschaft.

Nicht die Pflege, nicht die Fachberufe, nicht die Apotheker – und auch die Krankenhäuser nicht. Sie alle können von den in den Praxen gemachten Erfahrungen profitieren.

Sollen wir dann als die Early Adopters die Probleme einfach immer nur schönreden? Wie die gematik? Sie muss keine realen Patientinnen und Patienten versorgen.

Die Praxen schon. Die gematik will trotz der Faktenlage das eRezept in der kommenden Woche in der Gesellschafterversammlung beschließen lassen.

Das BMG wird zitiert mit der Aussage: Es bestünden aktuell keine Zweifel daran, dass die verpflichtende Nutzung des eRezeptes verbindlich beschlossen werde. Tja: Wer 51 Prozent der Stimmen hält, kann diese Zuversicht so lapidar verbreiten. Machen wir uns nichts vor:

Ein Gesellschafterbeschluss ist in Wahrheit ein BMG-Beschluss, wie Andreas Gassen neulich so schlicht und so wahr festgestellt hat.

Im Umkehrschluss aber heißt das, dass eben doch weiterhin nicht alle Betroffenen – in unserem Fall die Praxen mit ihren Erfahrungen und Erfordernissen – beteiligt werden, wie in Koalitionsvertrag, Gesprächen, Briefen und Petitionsausschuss versprochen.

Vielmehr wird gegen unsere Bedenken und Bedingungen einfach beschlossen und durchgesetzt. Auch hier deutet sich somit ein Wortbruch an.

Das gesetzte Datum wiegt offenbar schwerer als die Frage der Funktionsfähigkeit oder besser: der Dysfunktionalität. Das atmet deutlich den Geruch der gematik – und der alten Spahnschen Stakkato-Masche.

Dies macht den letzten Rest Vertrauens kaputt. Seit Jahren klären wir die Praxen auf allen uns zur Verfügung stehenden Kanälen über die TI und ihre Anwendungen auf, werben fürs Mitmachen.

Und dann das. Aber wir werden es trotzdem weiter versuchen. Wir haben den Minister an seine eigene Aussage erinnert, wonach das eRezept erst ausgerollt wird, wenn es nachweislich funktioniert. Die Praxen müssen sich auf Zusagen der Politik verlassen können. 

Fassen wir also zusammen: Seit mindestens vier Jahren „machen“ die Praxen „TI“. Eigentlich. Und zwar trotz Technikausfällen, TI-Störungen und der Disruption der Praxisabläufe.

Fast 4.000 Stunden liefen die TI oder einzelne TI-Komponenten und Dienste nicht, innerhalb von etwas mehr als einem Jahr. Das Wort „ernüchternd“ ist angesichts dieser Inventur stark untertrieben.

Es ist eine Katastrophe. Wenn wir dies dann auch noch im Sinne einer Bilanz mit den Kosten gegenüberstellen – wird es zornig.

Die Praxen haben nun schon jahrelang draufgezahlt: durchschnittlich 9.000 Euro, die ihnen nicht erstattet werden. Und nun sollen die Praxen und die gesetzlich Krankenversicherten mit ihren Mitgliedsbeiträgen auch noch für Fehler der gematik und der Industrie haften.

Denn auf das bisherige Scheitern der wortreich als segensreich beworbenen Anwendungen kommt ja noch obendrauf: 

  • dass das gängigste Kartenlesegerät einen Aufsatz benötigt (also eine Reparatur), weil bei der Zulassung die Kompatibilität nicht geprüft wurde. 
  • und dass die Konnektoren ab dem Herbst nach und nach ausgewechselt werden müssen, weil die versprochene TI 2.0 mit Software-Anbindung noch längst nicht in Sicht ist – entgegen aller Beteuerungen der gematik und obwohl allen Zuständigen stets bekannt war, dass die Sicherheitszertifikate der Konnektoren nach fünf Jahren ablaufen und sich die Konnektoren damit abschalten. 

Hier zeigt sich ganz deutlich: Die Spahnsche Digitalisierungspolitik war eine Luftnummer. Fünf Gesetze in drei Jahren, aber objektiv keine Erfolgsergebnisse.

Unter seiner Ägide wurde die Notwendigkeit der TI 2.0 mit Blick auf die Konnektoren-Laufzeit schlicht verschlafen – oder, noch schlimmer, bewusst verdrängt. Stattdessen hat man die Praxen gegängelt mit der verpflichtenden Einführung von dysfunktionalen Anwendungen. 

Dabei muss auch mal die Frage erlaubt sein, warum wir mit dem GKV-Spitzenverband überhaupt darüber verhandeln müssen, wie viel Euro die Kassen bereit sind, den Praxen für den Konnektor-Tausch zuzugestehen?

Wenn der Hersteller sagt: „Das Ding kostet netto 2.330 Euro inklusive Lieferung und Installation“, dann muss die GKV auch 2.330 Euro bezahlen, plus Steuern und Praxisaufwand. Wofür müssen wir hier eigentlich vor das Schiedsamt und vielleicht auch noch vor Gericht ziehen?

Die Erstattung müsste eine Selbstverständlichkeit sein. Leider sehen die Kassen das anders; die Verhandlungen sind gescheitert. Deshalb haben wir in der vergangenen Woche das Schiedsamt angerufen. So ist die Rechtslage. Noch. 

Auf das, was sich in der TI-Finanzierung grundsätzlich dringend ändern muss, gehe ich gleich noch tiefer ein.
Was heißt das alles nun in Summe? Aus Praxissicht haben die Politik und die gematik kaum ein Versprechen gehalten.

Nur die Praxen haben den Aufwand – nun auch noch obendrein mit Ersatzverfahren wegen Lieferproblemen bei Chips für neue elektronische Gesundheitskarten (eGK). Und die anderen haben die Vorteile.

Auch die Petition, die wir stets unterstützt haben, findet bislang faktisch keinen Widerhall – zumindest nicht über das Wiederholen der Zusagen hinaus, die wir hinsichtlich der Einführungstermine mit unserer Richtlinie erreichen konnten, in Bezug auf eAU und eRezept.

Die TI ist an der Praxisrealität vorbeigeplant worden und steckt nun in einer Sackgasse: was die Finanzierung betrifft, die Technik und auch die Praxisrelevanz. Angesichts dieses Status quo fallen einem Problem-Projekte wie Stuttgart 21 oder der Flughafen BER ein.

Zumindest der BER konnte schließlich irgendwann doch den Betrieb aufnehmen. Allerdings erst, nachdem das Ding politisch, strategisch und personell neu aufgestellt wurde.

Auch an der TI wird man weiterbauen müssen. Ein Abriss und kompletter Neubau sind keine Option – denn dafür ist sie rechtlich und technisch schon zu weit mit den Praxisstrukturen verzahnt. Beispielsweise geht ohne Konnektor kein Versichertenstammdatenmanagement (VSDM). Das wiederum ist aber Voraussetzung für die Abrechnung der von den Praxen erbrachten Leistungen.

Die bisherige „TI-sierung“ zeigt also: Wir brauchen für die künftige Gestaltung unter dem Stichwort „TI 2.0“ einen neuen gesetzlichen Rahmen mit grundlegenden Weichenumstellungen.

Im Koalitionsvertrag steht eine versorgungszentrierte Digitalisierung unter Beteiligung aller Betroffenen. Das heißt für uns: Die Versorgung der Menschen steht im Fokus, und sie muss einen Mehrwert haben.

Hierzu zählt unabdingbar auch, dafür zu sorgen, die TI 2.0 schnellstmöglich, vernünftig und voll funktionsfähig auf die Beine zu stellen, damit wir nicht in fünf Jahren schon wieder einen Konnektor-Tausch machen müssen. 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe VV-Mitglieder,

die gematik soll zur Agentur werden, heißt es bei der Koalition. Wie auch immer die gematik dann genannt wird, entscheidend ist: Sie muss grundlegend neu aufgestellt werden. Die Inventur lehrt uns: Was wir brauchen, ist ein Paradigmenwechsel. Und hier komme ich zum Kern des Problems.

Während Verkehrsnetze, Telekommunikationsnetze und Energienetze als staatliche Infrastrukturaufgabe wahrgenommen werden, hat man bislang dem Netz der TI den Rang eines Unterthemas in einer Unterabteilung im BMG eingeräumt.

Es handelt sich bei der TI um versicherungsfremde Leistungen von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Deshalb ist die TI aus der stets faktisch gedeckelten Finanzierung mit Versicherungsbeiträgen herauszunehmen und in den Staatshaushalt zu integrieren.

Denkbar ist hierfür so etwas wie der Vorschlag des Kollegen Müller von der KV Westfalen-Lippe, der schon mehrfach ein Praxis-Zukunftsgesetz gefordert hat, ähnlich dem für die Krankenhäuser.

Solch bedeutende und komplexe Infrastrukturaufgaben sind jedoch nicht nur staatlich zu finanzieren, sondern vor allem auch staatlicherseits bereitzustellen – bis zur virtuellen Praxistür, im Sinne von „Plug-and-Play“:

Ärzte und Psychotherapeuten müssen „nur noch“ ihr jeweils vorhandenes Praxissystem daran anstöpseln und können dann loslegen. Wie bei Strom, Internet und Wasser.

Die TI ist ein Eingriff in diese etablierte Digitalwelt der Praxen. Das muss zusammenpassen und zusammen funktionieren.

Und wenn sich herausstellt, dass wesentliche Hersteller mit ihren veralteten Praxisverwaltungssystemen nicht mit der Digitalisierung und der TI Schritt halten können, dann muss die Politik dafür sorgen, dass diese veraltete Technik auf den neuesten Stand gebracht und problemlos ausgetauscht wird.

Hier nämlich – meine sehr verehrten Damen und Herren – wären Sanktionen endlich einmal angebracht.
Hierbei komme ich zu einem weiteren wesentlichen Kern, der dringend angepackt werden muss: die Inkonsequenz in der Marktpolitik mit ihren schwerwiegenden Folgen.

Wenn die Politik dabei bleibt, die Nachfrageseite künstlich zu steuern, indem Praxen per Gesetz und Sanktionen zur Teilnahme an der TI gezwungen werden – dann muss konsequenterweise auch die Angebotsseite gesetzlich gesteuert werden. Der Nachfragezwang bringt schließlich nichts, wenn die Angebotsseite sie nicht erfüllt.

Die Preisfrage wiederum würde man umgehen, wenn die Finanzierung staatlicherseits erfolgt. 

Die Vernetzung des Gesundheitswesens kommt nicht voran. Ja, es ist schön einfach, den Ärzten und Psychotherapeuten sowie uns als deren Standesvertretungen die Schuld in die Schuhe zu schieben und eine Blockadehaltung vorzuwerfen. Aber hier wird die Kausalität zwischen Ursache und Wirkung verdreht.

Um das klarzustellen: Wem es faktisch unmöglich gemacht wird, etwas zu verwenden, dem kann das nicht als Blockade ausgelegt werden. Erst recht nicht, wenn er schutzlos den Launen und dem Missbrauch der Marktmacht durch andere Player ausgeliefert wird, die sich keinerlei Steuerung oder Sanktionierung ausgesetzt sehen. 

Anstatt munteres Marketing sowie PR zu betreiben und Fake News zu verbreiten, sollte die gematik-Leitung endlich ihre Hausaufgaben machen.

Denn was wir dringend brauchen, ist eine zentrale Steuerung, Koordination und Überwachung, um die TI 1.0 so schnell wie möglich zuverlässig in Gang zu setzen – und die TI 2.0 schnell an den Start zu bringen.

Die gematik muss mit klarer Verantwortung als Gesamtprojektleitung für Funktionsfähigkeit, Projektfortschritt und Daten- sowie Ausfallsicherheit sorgen – inklusive Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Herstellern, wenn diese gegen Zulassungsparameter verstoßen.

Der Bundesgesundheitsminister hat für die Zeit bis zum Herbst einen Zwischenspurt angekündigt für Themen jenseits der beiden Krisen Pandemie und Ukraine.

Dieser Spurt muss dringend auch diese dritte Krise in den Praxen angehen. Das darf sich nicht beschränken darauf, einfach stur das eRezept durchsetzen zu wollen.

Ich fasse nochmals zusammen: Die Erkenntnisse aus der bisherigen „TI-sierung“ zeigen, wir brauchen eine grundlegende Kurskorrektur. Und zwar:

  1. eine Fokussierung auf die Versorgung,
  2. eine umfassende Einbindung der Betroffenen,
  3. die Bereitstellung der TI-Infrastruktur bis zur „virtuellen Praxistür“ und Finanzierung durch den Staat – Stichwort: „Praxis-Zukunftsgesetz“,
  4. eine vorgezogene Neuausrichtung der gematik, um die TI-Fortschritte zentral gesteuert voranzubringen
  5. und eine gleichwertige Steuerung der Angebotsseite im Sinne einer konsequenten Marktpolitik.

Soweit also unsere Auswertung der Lehren, die aus der bisherigen „TI-sierung“ zu ziehen sind – für eine perspektivisch erfolgreiche TI in unserem Gesundheitswesen.

Sie sind eingeflossen in einen Resolutionsentwurf, über den Sie heute abstimmen werden. 

Bleibt noch die Frage nach dem aktuellen Scherbenhaufen. Wir hatten ja gehofft, dass mit dem Regierungswechsel der Volksmund Recht behält, im Sinne von „neue Besen kehren gut“.

Da müssen wir enttäuscht feststellen: Das BMG hat noch nicht gekehrt und auch keine Schadensbegrenzung vorgenommen, im Gegenteil: Kommunikativ wurde noch mehr Porzellan zerschlagen. Das zu kitten, wird der gematik und dem BMG nun Taten abverlangen –  neben den eben skizzierten perspektivischen, auch kurzfristige. 

Dafür haben wir ein Acht-Punkte-Programm aufgestellt – das der Minister gerne für seinen angekündigten Zwischenspurt und die digitale Agenda nutzen kann. Sie werden heute darüber sowie über die erforderlichen grundlegenden Kurskorrekturvorschläge abstimmen:

  1. muss ein verbindliches und mit uns – also dem KV-System – abgestimmtes Testkonzept für sämtliche Komponenten und Anwendungen eingeführt werden, also inklusive sämtlicher Komponentenkombinationen. Hierfür haben wir in der KBV ein gestuftes Zulassungsverfahren konzipiert, das wir in den weiteren Prozess einbringen – und das in den freiwilligen Modellregionen mit entsprechender Aufwandsentschädigung für Friendly Users anzuwenden sein sollte. Bezüglich des schon laufenden Prozesses beim eRezept werden Sie heute ja auch noch über einen gesonderten Resolutionsentwurf abstimmen.
  2. brauchen wir offenbar – wie in anderen Feldern schon erfolgreich praktiziert – einen Herstellergipfel im BMG, vielleicht sogar im Bundeskanzleramt. Hierbei müssen sich die Hersteller auf eine reibungslose Implementierung von Technik und Anwendungen verpflichten; gegebenenfalls finanziell angereizt. Das hat bei der Software fürs Impfzertifikat im vergangenen Jahr gut geklappt.
  3. brauchen die Praxen verlässliche Daten in Form einer Erweiterung des tagesaktuellen Online-Reportings der gematik um den Aspekt der TI-Fähigkeit sämtlicher Praxisverwaltungssysteme.
  4. ebenfalls dringend erforderlich: eine zentrale Info-Hotline der gematik, bei der die Praxen und die anderen Nutzer anrufen können, wenn sie TI-Probleme feststellen. Diese Hotline muss in der Lage sein, schnell und konkret festzustellen, wo die Problem-Ursache liegt, dann Abhilfe zu leisten oder mitzuteilen, wer der richtige Ansprechpartner ist.
  5. ist der Konnektor-Tausch für die Praxen ohne organisatorischen oder finanziellen Aufwand sowie ohne eine Störung der Patientenversorgung zu gewährleisten.
  6. sind die Praxen angewiesen auf kompetenten IT- und TI-Support. Das BMG muss daher gemeinsam mit den anderen Ressorts in der Bundesregierung eine entsprechende Fachkräfte- und Qualifikationsoffensive starten. 
  7. bedarf es zweier Informationskampagnen: zum einen mit Infos und Schulungen durch die Hersteller für alle Nutzerinnen und Nutzer inklusive des Praxispersonals – in Ergänzung zu den bereits von den KVen seit Jahren angebotenen Fort- und Weiterbildungen; sowie andererseits mit einer weiteren Informationskampagne zur Aufklärung der Versicherten, idealerweise durch ihre Krankenkassen. Und schließlich muss:
  8. das nächste Gesetzesvorhaben der Bundesregierung im Sinne eines Omnibus-Gesetzes eine Klarstellung zur Datenschutz-Verantwortung enthalten.

Diese acht Punkte gilt es nun umgehend anzupacken. Wie vorhin schon gesagt: „asap“.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe VV-Mitglieder,

heute hat die TI viel Raum in unseren Reden eingenommen. Das musste sein; die Analyse und unsere Vorschläge sind klar:

Die Politik muss in diesem Sinne handeln und die TI 1.0 zum Laufen bringen – und die TI 2.0 gangbar machen. Nicht im Herbst, oder gar im nächsten Jahr, sondern jetzt. 

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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