Bericht von Dr. Stephan Hofmeister an die Vertreterversammlung
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie zur unserer Vertreterversammlung hier in Berlin. Ich möchte heute über Grundsätzliches sprechen – obwohl dies eigentlich keine Zeit für Grundsatzreden ist, um mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Fiala zu sprechen, der mit dieser Bemerkung die Grundsatzrede von Bundeskanzler Scholz zur Zukunft Europas Ende August in Prag kommentiert hat. Fiala hat recht. Es gibt derzeit so viele Herausforderungen, die mehr konkretes Handeln und weniger Worte erfordern würden. Tatsächlich liegen die Dinge manchmal so klar auf der Hand, dass es nicht vieler Worte bedarf, weil jedem klar ist, worum es geht. Und weil aus dieser Erkenntnis heraus wiederum klar wird, was zu tun ist. Leider ist mein Eindruck, dass die hiesige Politik derzeit oft nicht erkennt, worum es wirklich geht und was auf dem Spiel steht – das gilt insbesondere für die Gesundheitspolitik. Deren Agieren lässt mich eher annehmen: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Dieses berühmte Zitat gehört allerdings laut dem Lukas-Evangelium (23/34) zu den letzten Worten Jesu gegenüber seinen Peinigern und ist insofern hoch gegriffen, ich weiß das. Auch war diese Aussage entschuldigend gemeint – ich meine es allerdings nicht entschuldigend, sondern eher verzweifelt: Politik weiß anscheinend nicht, was sie tut.
Deshalb muss ich heute doch ein bisschen grundsätzlicher werden. Zurzeit wird viel darüber debattiert, wie wir uns in Deutschland – und auch im übrigen Europa – bestmöglich auf den Winter vorbereiten können, der aller Voraussicht nach ungewohnte Härten mit sich bringen wird: weiter steigende Preise, womöglich Engpässe bei der Energieversorgung, allgemeine Steigerungen der Lebenshaltungskosten, ausbleibende Lieferungen für bestimmte Produkte und Lebensmittel und so weiter und so fort. Was aber kaum jemand sehen will: Auch die ambulante Versorgung steht auf zunehmend tönernen Füßen.
Von dem Affront des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), in den Finanzierungsverhandlungen für die ambulante Versorgung eine Nullrunde zu fordern und dem dann kaum weniger erschreckenden Schiedsspruch im Erweiterten Bewertungsausschuss will ich an dieser Stelle gar nicht weiter reden. Andreas Gassen hat dies bereits mit der gebotenen Deutlichkeit getan.
Die geplante Abschaffung der Neupatientenregelung, über die wir vor allem in unserer Sondersitzung am 9. September bereits ausführlich gesprochen haben, ist ein weiterer Schlag mit der Abrissbirne, mit der die Politik – trotz anderslautender Bekundungen im Koalitionsvertrag – gegen die Praxen vorgeht. Dass das Haus „ambulante Versorgung“ bröckelt, haben bislang vor allem die Praxen zu spüren bekommen. Die Patientinnen und Patienten kümmert nicht, mit welchen Widrigkeiten ihr Arzt oder ihre Ärztin zu kämpfen hat, so lange sie gut versorgt werden. Aber das wird sich bald ändern! Das ist keine Drohung, sondern eine zwangsläufige Folge der aktuellen Politik.
Mittlerweile sind auch Landrätinnen und Landräte sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zunehmend alarmiert. Wenn in den Kommunen Praxen schließen und die Menschen keinen Arzt oder keine Ärztin mehr finden, dann merkt auch die Politik vor Ort, dass sich die Dinge in die falsche Richtung entwickeln. So ist wohl auch zu erklären, warum sich der Bundesrat deutlich gegen die Abschaffung der Neupatientenregelung ausgesprochen hat. Im März 2019 hat der damalige Bundestagsabgeordnete Prof. Karl Lauterbach eine flammende Rede gehalten, welche die Zumutungen der Budgetierung in der ärztlichen Versorgung und deren Folgen auch für die Patientinnen und Patienten klar benannt hat. Und weil nichts besser ist als das Original, gestatten Sie mir, die entsprechende Passage der Rede hier noch mal als Videoeinspieler zu zeigen.
Wer genau hingehört hat, hat bemerkt, dass Herr Lauterbach in der ersten Person Plural von „wir als Ärzte in der Praxis“ sprach, also sich selbst miteingeschlossen. Das war schon damals eine eigentlich unzulässige Vereinnahmung, die aber sozusagen einem höheren politischen Zweck diente. Mittlerweile ist es so, dass viele Ärztinnen und Ärzte sich dieses kollegiale „Wir“ verbitten. Das ist eine Entwicklung, die dem heutigen Bundesgesundheitsminister zu denken geben sollte. Und dabei geht es nicht um enttäuschte Erwartungen an Klientelpolitik. Sondern darum, dass das Verständnis für die Arbeit in einer Praxis offenkundig nicht gegeben ist.
Aber das nur am Rande. Das Gesetz, für das Herr Lauterbach sich damals so vehement eingesetzt hat, ist am Ende bekanntermaßen tatsächlich in Kraft getreten. In Folge dessen haben die Praxen ihr Sprechstundenangebot aufgestockt, zusätzliches Personal eingestellt, Investitionen getätigt et cetera. Alles im Vertrauen auf die gesetzlich verbriefte Zusage, die Arbeit zumindest für diese neuen Patientinnen und Patienten endlich vollständig bezahlt zu bekommen. Wenn diese Zusage nun zurückgenommen wird, können die Praxen die Strukturen, in die sie investiert haben, nicht aufrechterhalten. Und damit ist Ihre Aussage, Herr Minister Lauterbach, es werde keine Leistungskürzungen für die Versicherten geben, am Ende des Tages nichts anderes als Wählertäuschung.
Die Gesamtsituation hat fast schon etwas Schizophrenes an sich. Auf der einen Seite gebiert die Politik ständig neue Ideen, wo, wie und durch wen gesundheitliche Versorgung außerhalb der Krankenhäuser angeboten werden könnte. Mal sind es die Apotheken, mal ganz neue Gesundheitsberufe wie die Community Health Nurse, neuerdings sind es Gesundheitskioske. Aber wo sollen das Personal und die finanziellen Mittel für all diese Parallelstrukturen herkommen? Will man wirklich den Praxen diese Ressourcen entziehen, um im Gegenzug 1.000 Gesundheitskioske zu finanzieren? In Deutschland sind über 4.000 Hausarztsitze nicht besetzt, hinzu kommen über 9.500 offene Stellen für Medizinische Fachangestellte (MFA). Was nützt den Menschen ein Gesundheitskiosk, wenn keine Praxis angebunden ist, welche bei Bedarf Patientinnen und Patienten aufnehmen kann? Herr Minister Lauterbach, volle Versorgung ohne Praxen – das geht nicht.
Es gibt kein Substitut für Ärztinnen und Ärzte, auch wenn Politik die Wählerinnen und Wähler das glauben machen will. Es drängt sich der Eindruck auf, dass man hier einen schleichenden Systemwechsel herbeiführen will. Um beim Bild des Hauses zu bleiben: Ständig werden neue Erker und Anbauten geplant. Das Problem ist, je mehr an dem Haus gehämmert und drumherum gegraben wird, desto instabiler wird das Fundament. Die Politik aber pinselt weiter schöne Bilder an die Fassade und verschließt die Augen davor, dass die tragenden Mauern Risse haben und es zum Dach reinregnet.
Für die Krankenhäuser, die ebenfalls Alarm schlagen, hat Lauterbach bereits ein weiteres Hilfspaket zugesagt – ich weiß schon gar nicht mehr, das wievielte in den letzten zwei Jahren. Wir lassen unsere Krankenhäuser nicht im Stich und werden sie über den Herbst und über den Winter bringen, hat der Bundesgesundheitsminister versprochen. Man werde an einer „kurzfristigen Lösung“ arbeiten. Für die Kliniken hat die Politik also den Bedarf des Strukturerhalts anerkannt.
Was sie nicht sieht: Die Praxen bilden ebenfalls eine für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung unverzichtbare Struktur. Diese ist sehr viel kleinteiliger, weshalb sie als nicht so gewichtig wahrgenommen wird wie die großen Krankenhäuser. Natürlich klingt es gewaltiger, wenn einer Klinik eine Million Euro mehr Energiekosten drohen als wenn es 10.000 Euro in einer Praxis sind. Aber in Relation ist es dasselbe Problem. Während die Kliniken ständig neue Zuschüsse kriegen, müssen die Praxen als eigenständige Unternehmen zusehen, wie sie klarkommen. Wenn man sie braucht, sind sie systemrelevant, wenn es Geld kostet, bleiben sie sich selbst überlassen – siehe Corona-Bonus für die MFA.
Was dabei gerne übersehen wird: Gerade die Kleinteiligkeit der ambulanten Versorgung mit ihren über 100.000 Praxen macht dieses Netz so stabil. In der Pandemie haben die Praxen die Leistungsfähigkeit, Agilität und Flexibilität dieses Systems unter Beweis gestellt. Wir haben den Nachweis erbracht, dass dieses Bauwerk hält, auch unter extremer Belastung. Die ambulante Versorgung arbeitet wie ein Bienenstock oder eine Ameisenkolonie – ganz viele Individuen, die gemeinsam ungeheure Wirkkraft entfalten und sich auf fast jede Herausforderung flexibel einstellen können. Dazu brauchen sie aber wenigstens halbwegs stabile strukturelle Rahmenbedingungen. Und nun legt Politik die Axt an eben diese bewährte Struktur, auf die sie sich in der Krise so fest verlassen konnte? Hier wird die Struktur der ambulanten ärztlichen Versorgung in Deutschland zum Schaden der Bürgerinnen und Bürger und von Patientinnen und Patienten ausgehöhlt, ja geradezu entkernt und jeder kann es beobachten.
Damit ich nicht missverstanden werde, es geht in dieser Angelegenheit nicht nur um Geld. Aber was definitiv nicht hilft, ist, wenn man den Praxen das Geld, das ihnen zugesagt wurde, auch noch wegnimmt. Diese mangelnde Verlässlichkeit, zuletzt kumuliert in der Abschaffung der Neupatientenregelung, verbunden mit einem weit über der Inflation liegenden Betriebskostenanstieg in den letzten Jahren, zuzüglich der derzeit explodierenden Energiepreise und der Weigerung der GKV und des Staates, die Versorgung zu stützen – all das hilft in keinster Weise, die Niederlassung in eigener Praxis als attraktives Zukunftsmodell für den Nachwuchs zu präsentieren. Im Gegenteil. Die älteren Praxisinhaberinnen und -inhaber hören früher auf, jüngere kommen nicht nach. Diese Abwärtsspirale ist bereits in vollem Gang. Angesichts der demografischen Entwicklung ist das eine doppelte Herausforderung. Und da wird von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) noch erwartet, dass sie die Versorgung sicherstellen? Wie und womit? Je weiter sich die Spirale dreht, desto schwerer wird es, das Ruder herumzureißen.
Drei Mechanismen gäbe es, um gegenzusteuern. Neben einer auskömmlichen Finanzierung wäre das eine echte Entbürokratisierung beziehungsweise die Befreiung der Ärztinnen und Ärzte von tätigkeitsfremden Aufgaben und last but not least eine funktionierende Digitalisierung, welche die Arbeit in der Praxis vereinfacht und verbessert, statt sie zusätzlich zu verkomplizieren und zu verteuern. Wir, das System, meckern auch nicht nur, wie man uns gerne vorhält. Wir machen im Gegenteil hierzu immer wieder konkrete und nachhaltig umsetzbare Vorschläge an die Politik. Es wäre höchste Zeit, dass man unseren Rat auch einmal annimmt. Denn wir wissen, was wir tun. Wir können nämlich Versorgung.
Wie gesagt, es geht nicht nur um Geld. Ich wiederhole, was ich bereits in unserer Sondersitzung am 9. September gesagt habe: Es geht um die Frage, welchen „Wert“ – wortwörtlich wie im übertragenen Sinne – die gesundheitliche Versorgung der Menschen hierzulande hat und um die Frage, ob und wie Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten befähigt werden, diese Versorgung aufrechtzuerhalten.
Es geht um den Erhalt der Struktur der ambulanten ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung. Wir brauchen keine Ersatzstrukturen, wenn dafür gesorgt ist, dass das Vorhandene funktionieren kann. Wir brauchen keinen grundsätzlichen Umbau des Systems. Ja, es gibt Verbesserungsbedarf und wir jammern nicht nur, sondern machen konkrete Vorschläge und Angebote. Beispielsweise im Hinblick auf Nachwuchsgewinnung, die Reform der Akut- und Notfallversorgung, die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsfachberufen und auch den gezielteren Einsatz begrenzter Ressourcen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei all dem ist mir eines besonders wichtig: Wir als Vertragsärzte- und -psychotherapeutenschaft lassen uns nicht spalten. Wir sind ein System, das System braucht uns und wir brauchen einander und hängen voneinander ab. Natürlich gibt es Themen, die eine Gruppe mehr und eine andere weniger betreffen. Aber gerade weil das System so ist, wie es ist, hängt am Ende alles mit allem zusammen. Deshalb ringen wir solidarisch füreinander – wenn nötig auch gemeinsam gegen die Politik, wenn wir die Interessen der Versorgung und damit der Bürgerinnen und Bürger bedroht sehen. Das macht uns stark. Wenn Politik das Spiel aus der Vergangenheit „divide et impera“ nicht mehr spielen kann, dann ist schon viel gewonnen.
Dabei müssen wir den Blick nicht nur auf die Berliner Politik richten. Auch in Brüssel ist es wichtig, Präsenz zu zeigen. Anfang September konnten wir dort nach mehr als zwei Jahren mal wieder gemeinsam mit der Bundesärztekammer eine Veranstaltung abhalten, den Med.Summer, bei dem ja auch einige von Ihnen dabei waren. Dies ist immer eine gute Gelegenheit, sich vor Ort über Themen zu informieren und mit den maßgeblichen Akteuren, etwa den Europa-Parlamentariern, persönlich ins Gespräch zu kommen. Dieses Mal ging es vor allem um den Europäischen Gesundheitsdatenraum EHDS und die sogenannte E-Evidence-Verordnung. Bei Letzterer ist es gelungen, durch den persönlichen Kontakt zur Berichterstatterin des zuständigen Innenausschusses, Frau Sippel, die Verordnung dahingehend zu ändern, dass das hohe Gut des Arztgeheimnisses und des Vertrauensschutzes gegenüber den Patientinnen und Patienten gewährleistet bleibt. Frau Sippel hat nach eigenem Bekunden durch uns Einblicke und Argumente an die Hand bekommen, die ihr bei ihrer Arbeit sehr geholfen haben und sie wünscht, weiterhin mit uns als Vertretung der Ärzteschaft in Kontakt zu bleiben. Das zeigt, wie wichtig es für alle Beteiligten ist, auch mal über den eigenen örtlichen und fachlichen Tellerrand zu schauen. Der Europäische Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) ist ein mindestens ebenso brisantes Thema, dessen weitere Entwicklung unsere Präsenz vor Ort erfordert. Wir planen bereits die nächste Veranstaltung zur Europapolitik im kommenden Jahr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute viel über Finanzierungsfragen und nachhaltiges Wirtschaften gehört. Wir präsentieren Ihnen gleich die Abschlussrechnung der KBV für das Haushaltsjahr 2021. Wie wir alle sicher noch in Erinnerung haben, war auch dieses Jahr ein besonderes, geprägt vor allem durch die Pandemie und ihre speziellen Herausforderungen. Ich danke deshalb allen Mitarbeitenden der KBV, dass sie trotz dieser erschwerten Umstände eine hervorragende Arbeit geleistet haben, sodass wir Ihnen heute diesen Abschluss vorlegen können. Sie werden sehen, dass wir umsichtig und vernünftig gewirtschaftet haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Es gilt das gesprochene Wort)