Abschiedsrede von Dr. Thomas Kriedel in der konstituierenden Sitzung der KBV-Vertreterversammlung
3. März 2023
Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich! Heute darf ich zum ersten und zugleich letzten Mal – und ausnahmsweise als einziger aus dem geschäftsführenden Vorstand – in dieser neuen VV-Zusammensetzung zu Ihnen sprechen. Bei mir steht das Ende der Berufstätigkeit an; vor Ihnen liegen – ich denke, das kann ich mit Gewissheit sagen – sechs Jahre mit enormen Herausforderungen: neben Weiterbildung, Notfallversorgung und Krankenhausreform auch neue und durch Digitalisierung veränderte Versorgungsmöglichkeiten.
Die Digitalisierung wird sich zunehmend daran messen lassen müssen, welchen Beitrag sie gemeinsam mit künstlicher Intelligenz (KI) und Co. zur Lösung der ganz großen Versorgungsfragen leistet: demographischer Wandel und Fachkräftemangel, Patientensteuerung und Individualmedizin, Bürokratie-Entlastung und knappe Kassen, sektorenübergreifende Versorgung und Kooperation et cetera. Die unzähligen, kleinen Einzelfragen rund um die TI-Technik treten mehr und mehr in den Hintergrund.
Spätere Generationen werden die kommenden Jahre rückblickend als digitale Zeitenwende werten. Die enormen Auswirkungen der digitalen Transformation auf die gesamte ambulante und sektorenübergreifende, auch integrierte Versorgung lassen sich nicht mehr aufhalten. Umso dringlicher ist es, sie proaktiv mitzugestalten: berufspolitisch, mit strategischer Weitsicht.
Denn noch in diesem Monat will der Bundesgesundheitsminister seine große Digitalisierungsstrategie vorlegen. Das ist die Chance, richtige Weichen zu stellen: für die Versorgungsrealität der kommenden Jahrzehnte. Unterdessen entwickelt die Europäsiche Union (EU) ihre Vorstellung eines gemeinsamen Gesundheitsdatenraums weiter, den EHDS; möglicherweise in Konkurrenz zur Telematikinfrastruktur (TI) 2.0.
Die Digitalisierung gilt zu Recht als Schlüssel zu innovativen Versorgungsformen.
Das geht weit über die Telematikinfrastruktur hinaus. Wir müssen Versorgungsprozesse und Strukturen komplett neu denken. Schlagworte wie personalisierte, prädiktive oder stratifizierte Medizin sind nur der Anfang. Vor allem aber: Die Hoheit über Daten und Versorgungssteuerung kann einschneidende Verschiebungen im Machtgefüge mit sich bringen; innerhalb der Gemeinsamen Selbstverwaltung sowie darüber hinaus und definitiv auch mit Konsequenzen für die Praxen und ihre Selbstverwaltung.
Eine der Herausforderungen in den vor Ihnen liegenden sechs Jahren wird also angesichts dieser Weichenstellungen sein, den gesamten, berufspolitisch relevanten Wald im Blick zu behalten und sich nicht von den unzähligen technischen Bäumchen daran hindern zu lassen. Die Digitalisierung wird immer mehr Bestandteil aller anderen Fachthemen, mit denen Sie sich in Ihrer praktischen und berufspolitischen Arbeit befassen.
Ich habe mich als Vorstand in den letzten sechs Jahren auch um andere Themen gekümmert, auch wenn die Digitalisierungsthemen rund um die TI von mir besonders oft zu hören waren. In der sektorenübergreifenden Qualitätssicherung etwa konnten wir mit unserem unablässigen Engagement ein bedeutendes Umdenken im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in Gang setzen. Diese Neuausrichtung der sektorenübergreifenden Qualitätssicherung (sQS) bleibt eine bedeutsame Aufgabe in den kommenden Jahren.
Unser eigenes Qualitätsmanagement-System QEP (Qualität und Entwicklung in Praxen) haben wir modernisiert und auf Jahre zukunftsfest neu aufgestellt. Beim Bürokratie-Abbau haben wir im Nationalen Normenkontrollrat die Sinne geschärft für dringend erforderliche Erleichterungen gerade auch in der ambulanten Versorgung. Um nur drei Beispiele herauszugreifen.
Gestatten Sie mir zum Abschluss einen kurzen Blick zurück. Nach diesen sechs Jahren kann ich feststellen: Die Praxen sind die einzigen, die trotz allen Ärgers so umfassend aktiv an der TI teilnehmen! Nicht die Krankenhäuser, nicht die Krankenkassen, auch nicht die Apotheken.
In der Digitalwelt ist aktuell ein Chatbot in aller Munde: ChatGPT. Wenn man seiner künstlichen Intelligenz Glauben schenken darf, so habe auch ich maßgeblich dazu beigetragen, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Und zwar insofern, „dass die medizinische Versorgung in Deutschland effizienter, schneller und sicherer geworden ist“. Das lasse ich mal so stehen.
Rückblickend bin ich besonders stolz darauf, wie sehr es uns im KBV-Vorstand gelungen ist, Geschlossenheit herzustellen. Das heißt nicht, dass wir uns immer in allen Punkten stets von Anfang an einig waren. Aber es hat ein echter Austausch stattgefunden, kollegial und zielorientiert.
Das haben wir auch mit der VV und den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gelebt. Mit meinen vier Jahrzehnten Erfahrung im KV-System kann ich sagen: Eine solch enge und vertrauensvolle – und somit fruchtbare – Zusammenarbeit zwischen KVen und KBV habe ich nie zuvor so erlebt. Und das ist zweifelsohne auch ein Verdienst von Petra Reis-Berkowicz. Hierfür auch von mir ein herzliches Dankeschön, liebe Petra! Wir können auch bei großer Zeitnot schnell wichtige Positionen abstimmen. Das ist wichtig. Da hat uns die Pandemie gewiss einen Schub verpasst, den wir gemeinsam genutzt haben.
Schon gibt es Stimmen in der Gesundheitspolitik, wonach die Vertragsärzte und Psychotherapeuten viel zu viel Macht in Händen halten würden – also zu laut und durchsetzungsstark seien. Ich finde, das können wir als Kompliment für unsere Arbeit sehen. Aber: Die Frage wird sein, welche Geige das KV-System auch in Zukunft spielt. Denn Tatsache ist: In den vergangenen 42 Jahren, in denen ich das hautnah miterleben durfte, haben die ärztliche und die gemeinsame Selbstverwaltung insgesamt viel an Einfluss verloren.
Last, but not least, möchte ich Dank und Respekt aussprechen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der KBV machen sich mit ihrem außergewöhnlichen Engagement, Herzblut und Sachverstand die Anliegen der Praxen zur täglichen Aufgabe und leisten allesamt ihren höchst professionellen Beitrag zum Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit. Das ist nicht selbstverständlich. Und deshalb ist es mir so wichtig, dies auch in diesem Rahmen zu würdigen. Diese tolle Zusammenarbeit und den lebendigen Austausch werde ich gewiss vermissen. Sitzungen in der Gesellschafterversammlung der gematik hingegen weniger.
Ich freue mich auf die wirklich schönen und spannenden Dinge vor mir – und wünsche Ihnen allen viel Erfolg und alles Gute! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Es gilt das gesprochene Wort.)