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Reden

Bericht von Dr. Sibylle Steiner an die Vertreterversammlung

15. September 2023

Drei Zahlen stehen zu Null: 1,45 Millionen. 512. Und sechs. 1,45 Millionen will das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) bis Ende dieses Jahres für eine Cannabis-Kampagne ausgeben. Null Euro hingegen für Patienteninformationen zum elektronischen Rezept (eRezept).

512 Arzneimittel stehen auf der Engpass-Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Bislang also null Effekt vermeintlicher Gegenmaßnahmen des Bundesgesundheitsministers gegen Lieferengpässe. Und vorerst in Fläschchen mit jeweils sechs Dosen kommt in der nächsten Woche der Corona-Impfstoff von BioNTech. Das ergibt im postpandemischen Praxisalltag null Sinn. Und damit auch von mir und trotz allem ein herzliches Guten Morgen!

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Petra, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Sie haben wahrscheinlich ebenso wie ich null Verständnis für diese desaströse Performance auf der gesundheitspolitischen Bühne! Und wie wir nicht nur vom 18. August wissen: Das Vertrauen der Vertragsärzte und -psychotherapeuten in die aktuelle Gesundheitspolitik geht ebenfalls gegen Null.

In der Gesundheitspolitik selbst scheinen die entscheidenden Köpfe unsere Probleme nicht ernst nehmen oder schlicht ignorieren zu wollen. Dieser Ignoranz sagen wir den Kampf an! Es geht derzeit an die Substanz: an die Substanz der Freiberuflichkeit und der Selbstverwaltung. Hierzu will ich exemplarisch drei Themenfelder herausgreifen: Gesetzgebung und Status quo in der Digitalisierung, Impfen und Regresse, sowie die Pläne für ein Krankenhaustransparenzgesetz.

Beginnen wir mit dem Entwurf für das Krankenhaustransparenzgesetz. Darin versteckt sich eine Regelung, die uns und die gemeinsame Selbstverwaltung ins Mark trifft: Das BMG will den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) umgehen und direkt auf das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) zugreifen, ohne aber selbst dafür zu bezahlen oder für die Ergebnisse zu haften.

Einmal mehr wird erkennbar, wes Geistes Kind die Agenda des BMG ist: Man bahnt den Weg in eine unmittelbar und bis ins Detail staatlich gelenkte, von der Selbstverwaltung entkoppelte, Gesundheitsversorgung.

Wir unterstützen datengestützte Qualitätssicherung und Transparenz auf Grundlage wissenschaftlicher Expertise – und zwar innerhalb des nachweislich erfolgreichen Organisationsprinzips der deutschen Gesundheitsversorgung: der gemeinsamen Selbstverwaltung.

Manchmal anstrengend, ja. Und dennoch: In der Pandemie haben wir den international vielfach gerühmten Wert der gemeinsamen Selbstverwaltung unter Beweis gestellt. Eine Neu-Priorisierung der Aufgaben des IQTIG ist durchaus nachvollziehbar – nicht zuletzt mit Blick auf die dringend nötige und eingeleitete Neuausrichtung der sektorenübergreifenden Qualitätssicherung.

Unsere Vorschläge dazu sind einfach und klar: Fokussierung, Vereinfachung und Entbürokratisierung. Aber genau das wird durch das Ansinnen des BMG ernsthaft gefährdet. Ob Minister Lauterbach wohl diese Aushöhlung der Selbstverwaltung gemeint hat, als er jüngst aus Schloss Meseberg auf X postete: „Unser Gesundheitssystem wird sich in den nächsten Jahren umfassend wandeln.“ 

Eine weitere ernstzunehmende Attacke auf die Selbstverwaltung jedenfalls spielt sich aktuell bei der Finanzierung der Telematikinfrastruktur (TI) ab. Hier plant das BMG ebenfalls den Selbstverwaltungsmechanismus auszuhöhlen: mit einer unscheinbaren, aber folgenschweren Formulierung, die sich im Regierungsentwurf des Digitalisierungsgesetzes findet.

Zukünftig soll das BMG die TI-Finanzierung per Rechtsverordnung festlegen können. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nicht nur die mit dem Krankenhauspflegeentlastungsgesetz eingeführte Ersatzvornahme war schon systemwidrig. Jetzt will man auch noch vollends am System vorbei durchregieren! Anstatt die Hersteller zu funktionierenden und interoperablen Produkten zu angemessenen – das heißt durch die Pauschale vollständig abgedeckten – Preisen zu verpflichten, gibt man ihnen eine Abnahmegarantie.

Die Praxen zwingt man per Sanktion, Unfertiges und Überteuertes zu kaufen, und zukünftig obendrein per Rechtsverordnung draufzuzahlen. So nicht, Herr Lauterbach! Denn – und damit sind wir bei der aktuellen und durch das BMG mittlerweile korrigierten Festlegung der TI-Pauschale – diese ist nach wie vor zu niedrig und wird bei Fehlen einer Anwendung weiterhin unverhältnismäßig gekürzt.

Von den zeitlichen Belastungen der Praxen, die sich mit neuen Angeboten und dysfunktionaler Technik beschäftigen müssen, ganz zu schweigen.

Einige unserer gemeinsamen Kritikpunkte hat das BMG berücksichtigt und nachgebessert, beispielsweise die Streichung des Punktes, dass auch Psychotherapeuten eRezept- und eAU-fähig sein sollten. Aber unsere Hauptkritik bleibt bestehen. Deshalb haben wir Klage eingereicht.

Zugleich sind wir mit dem BMG im Gespräch, um dem Ministerium klarzumachen, dass die Hersteller ihre Preise nicht nach unten korrigieren und an die TI-Pauschale anpassen. Im Gegenteil: Einige Hersteller haben ihre Preise bereits ohne Mehrleistung nach oben geschraubt! Allein schon rund um die neuen „TI-as-a-Service“-Angebote sehen wir derzeit wieder einmal Geschäftsmodelle der Hersteller auf Kosten der Praxen. 

Verkalkuliert haben sich BMG und gematik auch beim eRezept: Schlagartig flächendeckend sollte das eRezept ausgerollt werden, ohne die Ausstattung der Apotheken mit Kartenlesegeräten und Software sicherzustellen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen das nun wieder richten, indem sie in Pilotregionen, in denen Praxen und Apotheken zusammenarbeiten, die gesamte Prozesskette erproben.

Nicht ohne Grund hatten wir uns für einen stufenweisen Roll-Out ausgesprochen. Der eRezept-Server muss zukünftig die Voll-Last bewältigen können. Zur Erinnerung: gut eine bis anderthalb Millionen Verordnungen am Tag. Aber schon jetzt ist die TI am ersten Juli-Wochenende bei gerade einmal etwa zwei Prozent des angestrebten Aufkommens zusammengebrochen mit dem Resultat Ersatzverfahren „rosa Zettel“.

Und auch hier bricht der Minister sein Versprechen. Er lässt wieder Sanktionen – ausschließlich gegenüber den Praxen! – gesetzlich vorschreiben. Diese geplante Regelung muss gestrichen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Immerhin: Die gematik nimmt sich nun endlich des Problems der Signaturdauer an. Wir mussten ja auch „nur“ mehr als zwei Jahre lang beharrlich auf dieses tägliche Ärgernis in den Praxen hinweisen! Künftig können Praxen der gematik online mitteilen, wenn es Probleme mit lang dauernden Signaturvorgängen gibt.

Diese will sich dann in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Hersteller auf die Suche nach einer Lösung für das Problem machen. Auch vor diesem Hintergrund fordern wir mit dem Digitalisierungsgesetz verbindliche Vorgaben für die Hersteller von Praxisverwaltungssystemen (PVS) für ausreichend getestete, nutzerfreundliche und funktionstüchtige Technik!

Ein wahres Highlight des Im-Stich-Lassens der ambulanten Versorgung durch die Politik: Im BMG ist die Rede von „unterlassener Hilfeleistung“ – wenn man versucht zu rechtfertigen, weswegen man den Kranken- und Pflegekassen künftig Daten zur Patientensteuerung überlassen will. Die jetzige Situation sei „unterlassene Hilfeleistung“!

Das ist gelinde gesagt eine Unverschämtheit! Was unterlassene Hilfeleistung ist, das ist diese Politik, die sehenden Auges die Praxen in den Kollaps lenkt! Wir sagen nein zu einer datengestützten Patientensteuerung – zu einem Screening mit nicht belegtem Nutzen durch die Krankenkassen, allein damit sie sich mit ökonomischen Hintergedanken oder womöglich zu Marketingzwecken in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt beziehungsweise Psychotherapeut und Patient einmischen können; etwa durch Hinweise auf angebliche Gesundheitsgefährdungen oder auf Risiken der verordneten Arzneimittel. 

Unser Alternativ-Vorschlag: Die Politik sollte gezielt darauf hinwirken, dass die Industrie KI-gestützte, evidenzbasierte und an medizinischen Leitlinien orientierte Tools entwickelt und erprobt, die Haus- und Fachärzte dabei unterstützen, in Sekundenschnelle anhand der in elektronischer Patientenakte (ePA) und PVS hinterlegten Daten derartige Risiken zu erkennen.

Ärztinnen und Ärzte können dann heilkundlich fundiert und mit der entsprechenden medizinischen Einordnung die Patientinnen und Patienten im geschützten Raum unmittelbar beraten, behandeln und begleiten.

Und wenn der Politik unsere Perspektive und unsere Argumente nicht gefallen: Wie wäre es mit einem Blick durch die Brille der Versicherten, beispielsweise zur ePA? Eine qualitative Studie der Ruhr-Uni Bochum, der Leibniz-Uni Hannover und des Helmholtz-Zentrums für Informationssicherheit hat ergeben: Gegenüber der Rolle der Krankenkassen rund um die ePA herrscht bei den Versicherten Skepsis.

Das beginnt sogar schon bei der Frage, wer die ePA in Form einer App bereitstellen soll: jedenfalls nicht die Krankenkassen, wenn es nach den befragten Versicherten geht. Insgesamt stellt das Forschungsteam fest: Die Versicherten wissen noch viel zu wenig über die ePA. Das Digitalisierungsgesetz enthält in seiner Entwurfsfassung ein komplexes Regelungsgeflecht an Zugriffs- und Widerspruchsrechten.

Da ist in Zukunft viel Beratung für die Versicherten notwendig. Diese Aufklärungsarbeit darf das BMG nicht zusätzlich noch den Praxen aufbürden. Deshalb ist unsere Forderung an das BMG eindeutig: Diese Aufklärung ist Aufgabe der Krankenkassen! Vom BMG aber dazu: null Reaktion.  

Für die ePA gibt es im Gesetzesvorhaben für die Hersteller keine konkreten und verbindlichen Vorgaben. Obwohl es unbestritten ist, dass die Darstellung und Befüllung der ePA in der ambulanten Versorgung nur so gut sein kann, wie jedes einzelne PVS. Völlig realitätsfremd mutet daher auch der plötzliche Sinneswandel des BMG an, dass die Befüllung der ePA nicht drei, sondern nur eine Minute dauere.

So nicht, Herr Minister! Mit diesen Taschenspielertricks kommen Sie nicht durch. Machen Sie bei der Digitalisierung die Augen auf und stellen sich den Realitäten! Sie belasten sonst nur das Gesundheitssystem und schaden der Versorgung! 

Ich möchte zum Abschluss noch kurz zu drei anderen akuten Themen kommen: Telemedizin, Lieferengpässe und Regresse. Bei der Telemedizin hat uns der Kabinettsentwurf des Digitalisierungsgesetzes einen Lichtblick beschert: Die Mengenbegrenzung soll nicht mehr pauschal aufgehoben, sondern fall- und arztgruppenbezogen durch den Bewertungsausschuss festgelegt werden.

Und die Durchführung einer Videosprechstunde soll nicht mehr nur in den Praxisräumlichkeiten möglich sein, sondern auch im Sinne des mobilen Arbeitens. Das ist ein Erfolg für den gemeinsamen Vorschlag der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). 

Wozu uns allerdings jegliche Fantasie fehlt, ist zu Sinn, Zweck und Inhalt der geplanten assistierten Telemedizin in Apotheken. Auch ein Affront im aktuellen Gesetzgebungsverfahren zur Digitalisierung. Sollen die Apotheken mitten im Ladengeschäft Bildschirme und für die Vertraulichkeit Kabinen aufstellen?

Sollen Apotheker oder Pharmazeutisch-technische Assistenten daneben stehen bleiben, wenn Patientin und Ärztin eine Videosprechstunde durchführen? Es könnte sich ja nur um Leistungen handeln, die zum Spektrum der pharmazeutischen Tätigkeit gehören. Ausübung der Heilkunde zählt jedenfalls nicht dazu. Diese Regelung brauchen wir daher nicht.

Streichen muss der Gesetzgeber endlich auch die Regresse. Sie sind schon seit etlichen Jahren nicht mehr zu rechtfertigen. Nehmen wir beispielsweise den Off-Label-Use von Arzneimitteln, häufig in der Versorgung von Kindern eingesetzt sowie in Onkologie und Neurologie; sogar in Leitlinien empfohlen. Ein richtiger Schritt wäre die konsequente Einführung der Differenzkostenmethode.

Die müssen wir nun – wie Sie wissen – vor dem Bundessozialgericht erstreiten, beziehungsweise eine entsprechende Klarstellung durch den Gesetzgeber erwirken. Doch der hat bislang keinerlei Einsehen. Auch nicht beim Impfen. Dabei ist klar: Wer Impfquoten steigern will, muss Regresse abschaffen und Lieferengpässe wirksam bekämpfen. Seit Jahren weisen wir das BMG in aller Regelmäßigkeit auch darauf hin. Es wäre sehr einfach, das relevante Impfhindernis „Regressrisiko“ zu beseitigen.

Nehmen wir das Beispiel der saisonalen Influenza-Impfung. Da müssen die Ärztinnen und Ärzte Monate zuvor den Impfstoff bestellen, obwohl sie überhaupt nicht belastbar einschätzen können, wie viele Patientinnen und Patienten sich bei ihnen impfen lassen werden. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich beim Impfen im überflüssigen Wettbewerb mit Apotheken wiederfinden.

Bestellen sie zu viel Impfstoff, kann ihnen das als unwirtschaftlich vorgehalten werden, es droht ein Prüfverfahren mitsamt Regress. Während der Pandemie hatte der Gesetzgeber eine Überschreitung in Höhe von 30 Prozent erlaubt. Jetzt will er nichts mehr davon wissen und hat schon gar nicht den Mut, die unsinnige Regelung ganz zu streichen. Und wenn Lieferengpässe für Impfstoff-Bündelpackungen bestehen, müssen auch Einzelverordnungen ohne Regressverfahren möglich sein. 

Und der Minister? Immerhin hat er gestern in seinem 5-Punkte-Plan für den Herbst/Winter angekündigt, bei Kinder-Arzneimitteln der Dringlichkeitsliste auf Wirtschaftlichkeitsprüfungen zu verzichten. Darauf hatten wir schon im vergangenen Jahr gedrungen und konnten so bewirken, dass der GKV-Spitzenverband eine entsprechende Empfehlung an seine Mitgliedskassen ausgesprochen hat. Ansonsten aber verbreitet der Minister in Sachen Lieferengpässe vor allem Hektik. Mehr aber leider auch nicht. Hektik auch bei der Digitalisierung mit seinem Aufruf zur digitalen Aufholjagd.

In diesem Zusammenhang möchte ich zum Abschluss noch eine zahnmedizinische Kollegin zitieren, die für die meisten von uns spricht, als sie kürzlich in einem Interview für das Big Bang Health Festival sagte: „Ich bin selbst Ärztin – ich feiere jede digitale Anwendung, die mein Leben erleichtert und mir mehr Zeit mit meinen Patienten ermöglicht. Patienten wären auch begeistert, wenn Ärzte mehr Zeit für sie hätten. Dann würden sie die Digitalisierung auch lieben!“ Dem ist null hinzuzufügen.

Vielen Dank.

 

Es gilt das gesprochene Wort.