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Reden

Bericht von Dr. Stephan Hofmeister an die Vertreterversammlung

15. September 2023

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

auch von mir ein herzliches Willkommen zur Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Wir haben eben die unsägliche öffentliche Reaktion des Ministers auf unser Forderungspapier gesehen und wir werden, gemeinsam mit Ihnen, Konsequenzen daraus ziehen.

Unsere Krisensitzung am 18. August war – das haben wir auch im Nachgang immer wieder gespiegelt bekommen – eine Veranstaltung, die eigentlich jeden wachrütteln oder mindestens zum Nachdenken angeregt haben müsste, der sich für die Gesundheitsversorgung der Menschen hierzulande verantwortlich fühlt.

Tatsächlich haben sich auch einzelne Abgeordnete bei uns, und auch bei Ihnen in den Ländern, gemeldet und das Gespräch gesucht. Und was macht der oberste Gesundheitspolitiker dieses Landes? Er „reagiert“ – und auch das nur auf Nachfrage von Journalisten – auf eine derart ignorante und herablassende Art, dass es für die gesamte niedergelassene Ärzte- und Psychotherapeutenschaft ein Schlag ins Gesicht ist!

Am 18. August selbst hatte der Minister unsere Forderungen auf Twitter noch wie folgt kommentiert: „Im Bereich der Hausärzte ist eine Aufhebung der Budgets durchaus denkbar. Aber es ist nicht das Einkommen, was die Versorgung gefährdet. In den Praxen brauchen wir weniger Bürokratie und eine Digitalisierung, die funktioniert.“

Inhaltlich ist an den drei kurzen Sätzen des Ministers eine Menge bemerkenswert. Erstens kennt der Minister den Inhalt unserer Forderungen und somit unseres Schreibens offenbar doch, kann sich aber nur wenige Wochen danach nicht mehr daran erinnern. Muss ich mir also wegen der Amnesie des Ministers Sorgen um seinen Gesundheitszustand und seine Handlungsfähigkeit machen, oder handelt es sich „lediglich“ um die ja auch bei anderen Regierungsmitgliedern nicht ganz unbekannte, temporäre selektive „Amnesia politica“?

Zweitens, dass ein im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien explizit festgeschriebenes Ziel, nämlich das Ende der Budgetierung im hausärztlichen Bereich, vom zuständigen Minister lapidar als „denkbar“ abqualifiziert wird. Drittens die erneute Übernahme des allzu bekannten „Kassensprechs“, es ginge bei unseren Forderungen um das Einkommen der Ärzte. Ich will an dieser Stelle aber auf den dritten Punkt eingehen, nämlich die Bürokratie, die der Minister ja immerhin korrekterweise als echtes Versorgungshemmnis erkannt hat.

Ein ganz aktuelles Beispiel, das im Herbst wieder vermehrt auf die Praxen zukommen wird und bei dem das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sich weiterhin uneinsichtig zeigt, sind die Corona-Impfungen mit dem angepassten Comirnaty-Impfstoff.

Weder wird der Meldeaufwand an das RKI reduziert, noch wird es den Praxen möglich sein, Impfungen in Einzeldosen zu ordern, um das Einbestellen der Impfwilligen flexibel handhaben zu können und damit unnötigen Planungsaufwand – und am Ende auch den Verwurf nicht rechtzeitig verimpfbarer Dosen – zu vermeiden.

Und das Ganze nicht etwa, weil Einzeldosen nicht verfügbar wären – das soll bis zum Herbst der Fall sein –, sondern weil die Bundesregierung diese nicht bestellt. Das hemmt den Impfbetrieb in den Praxen künstlich und das Ziel der Durchimpfung entsprechender Risikogruppen wird dadurch massiv kompromittiert. Hier sieht man deutlich Politikversagen! Fast drei Jahre nach Beginn der Pandemie wird es endlich Zeit, die überbordenden Meldevorgaben abzuschaffen und das Prozedere an das bei anderen Impfungen anzugleichen. 

Beide in dem eben zitierten Tweet von Herrn Lauterbach genannte Themen, der Bürokratieabbau und die Digitalisierung, standen im Fokus der Klausursitzung des Bundeskabinetts Ende August in Schloss Meseberg. Dort fanden die Ampel-Koalitionäre viele markige Worte, um ihren Handlungswillen zu betonen.

Justizminister Buschmann will den „Bürokratie-Burn-out“ Deutschlands verhindern, Finanzminister Lindner sprach vom „Turn-around-Potenzial“, das man erschließen wolle und Bundeskanzler Scholz will das „Deutschlandtempo“ ankurbeln – was immer das genau heißen mag.

In Meseberg hat das Kabinett dann auch Eckpunkte für ein neues Bürokratieentlastungsgesetz beschlossen. Noch in diesem Jahr will das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf vorlegen. Vorgesehen ist unter anderem das neue Instrument des „Praxis-Checks“, um, wie es in den Eckpunkten heißt, unnötige Belastungen über alle politischen Ebenen und im Zusammenspiel verschiedener Regelungen und Normen zu identifizieren. Eine solches Instrument haben auch wir in unserem Papier mit Handlungsvorschlägen vom 18. August angemahnt.

Die Worte der Regierung hören wir also wohl, aber mit einer gesunden Portion Skepsis. Die Absichtserklärung ist gut, allerdings münden gerade solche Ankündigungen nicht selten in neue, hundert Seiten umfassende Indices oder am Ende gar eine neue Behörde. Da kann man fast schon froh sein, dass bislang noch kein neues Bürokratieministerium beschlossen wurde. 

Die Eckpunkte zur Bürokratieentlastung wurden von den Ministerien ressortübergreifend erarbeitet, womit sich erklärt, dass sich darin Inhalte zum Arbeitszeitgesetz, zur Hotelmeldepflicht, zur Lebensmittelinformationsdurchführungsverordnung und zur Küstenschifffahrt wiederfinden. Allerdings nichts zur ambulanten Gesundheitsversorgung. Das BMG hat an den Eckpunkten nicht mitgewirkt, was Minister Lauterbach deutliche Kritik, übrigens auch von Gesundheitspolitikern, eingebracht hat.

Das BMG wiederum will bis zum 30. September eigene Empfehlungen zum Bürokratieabbau vorlegen. Ob diese am Ende in ein speziell auf den Gesundheitsbereich zugeschnittenes Gesetz münden werden, wie Herr Lauterbach schon auf dem Neujahrsempfang der Ärzteschaft im Januar versprochen hatte, steht in den Sternen. 

Auch zu möglichen Inhalten hält sich das BMG gewohnt vage und verweist stattdessen auf die „entlastende“ Wirkung der Digitalisierung – nach den bisherigen Erfahrungen eine eher zynisch anmutende Betrachtung. Darüber hinaus spielt das Ministerium den Ball zurück an die Selbstverwaltung, „die es ja selbst in der Hand habe, Dokumentationspflichten etc. zu entschlacken.“

Solche Aussagen sind bewusste Augenwischerei! Schließlich handeln wir als KV-System ja nicht Kraft eigener Herrlichkeit, sondern auf Basis gesetzlicher Vorgaben. Auch hier wiederholt sich ein bekanntes Phänomen: Wenn es genehm ist, beruft sich die Politik gerne auf die Selbstverwaltung, wenn nicht, wird diese schlimmstenfalls als „Problem für die Demokratie“ diskreditiert.

Herr Minister Lauterbach, im Gegensatz zu Ihnen haben wir längst geliefert! Anfang August haben wir dem Ministerium ein Papier mit neun konkreten Vorschlägen zukommen lassen, wie der bürokratische Overkill, der die Praxen mehr als einen ganzen Arbeitstag pro Woche kostet, reduziert werden könnte.

Dazu gehören zum Beispiel eine gesetzlich geregelte Karenzzeit für Arbeitsunfähigkeiten ohne ärztliche Bescheinigung, wie sie in vielen Tarifverträgen längst gelebt wird, Maßnahmen gegen die Flut von wiederholten Kassenanfragen und eine Gebühr für unbegründete Abrechnungsprüfungen. 

Wir haben es hier mit einer institutionalisierten Misstrauenskultur zu tun, die insbesondere die Krankenkassen ausdauernd pflegen. Doch auch hier gibt es durchaus Verbündete. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker, immerhin Deutschlands größte Krankenkasse, hat sich jüngst öffentlich darüber beklagt, dass es viel zu sehr darum gehe, jeden noch so abstrakten und theoretischen Fall von Missbrauch zu verhindern, statt Arbeit, Verwaltungskosten und auch Nerven aller Beteiligten zu sparen.

Als Beispiel nannte er die elektronische Ersatzbescheinigung der Krankenkasse, wenn ein Patient in die Praxis kommt und seine Chipkarte vergessen hat. In diesem Fall müssen Arzt oder Versicherter umständlich die Krankenkasse kontaktieren und eine Ersatzbescheinigung anfordern. Wie viel einfacher wäre es, wenn der Arzt oder die Ärztin mit einem Klick aus der Praxissoftware heraus diese Anfrage digital bei der Kasse stellen, umgehend eine Bestätigung erhalten und dann die Behandlung starten könnte.

Weil der Arzt mit einem solchen einfachen Verfahren theoretisch aber die Krankenkassenzugehörigkeit von jedem x-beliebigen Versicherten abfragen könnte, ist das nicht erlaubt. Stattdessen wird vorgeschlagen, der Arzt solle sich vom Versicherten eine schriftliche Vollmacht ausstellen lassen, diese dann an die Krankenkasse faxen oder schicken, um dann von dort elektronisch eine Bestätigung über das Versicherungsverhältnis zu bekommen. Ich kann Herrn Baas sehr gut verstehen, wenn er sich darüber die Haare rauft!

Damit solche einfachen und technisch machbaren Verbesserungen wie die elektronische Ersatzbescheinigung in der Praxis umgesetzt werden dürfen, bedarf es einer gesetzlichen Regelung. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, wie der Gesetzgeber zum Bürokratieabbau beitragen könnte. Und es ist ein Beispiel, wie die Digitalisierung einen wertvollen Beitrag zu diesem Ziel leisten könnte.

Wenn Minister Lauterbach betont, dass die Digitalisierung helfen werde, Bürokratie abzubauen, dann hat er allerdings die jüngsten Gesetzentwürfe seines eigenen Hauses, die ebenfalls in Meseberg vom Kabinett beschlossen wurden, nicht richtig gelesen! Man darf gespannt sein, was da noch kommt. Wir jedenfalls werden die Politik nicht an markigen Worten, sondern an ihren Taten messen. Wenn das Versprechen der Bundesregierung und die Ankündigungen des Gesundheitsministers in Sachen Bürokratieentlastung Substanz beweisen würden, dann wäre das ein echter Beitrag gegen den „Praxenkollaps“! 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bereits am 6. Juli 2023 die Richtlinie zur Ersteinschätzung des medizinischen Versorgungsbedarfs von Hilfesuchenden in Notaufnahmen beschlossen (§ 120 Abs. 3b SGB V). Mithilfe softwaregestützter Verfahren soll die Dringlichkeit des Behandlungsbedarfs bei Patienten eingeschätzt werden, bei denen keine lebensbedrohliche Gesundheitsgefährdung besteht.

Bei einem Versorgungsbedarf innerhalb der nächsten 24 Stunden soll die Behandlung entweder ambulant im Krankenhaus oder einer an das Krankenhaus angegliederten KV-Notdienstpraxis erfolgen. Hat die ärztliche Versorgung länger Zeit, erhalten Hilfesuchende einen Code zur Buchung eines Termins in einer vertragsärztlichen Praxis über die Terminservicestelle. 

Mit dem Beschluss der Richtlinie hat die gemeinsame Selbstverwaltung aus unserer Sicht ihren Auftrag erfüllt – und dass, obwohl der Gesetzgeber kurzfristig die Anforderungen noch einmal geändert hatte. Dennoch hat das BMG die Richtlinie kurz vor Ablauf der Frist diese Woche beanstandet. Und zwar in einer Art und Weise, die nicht an der Sache orientiert zu sein scheint, sondern am grundsätzlichen politischen Misstrauen gegenüber dem G-BA und seiner Arbeit.

Die Inhalte der Richtlinie werden als rechtswidrig diskreditiert, mehrfach ist sogar von einer akuten Gefährdung der Patientensicherheit die Rede. Die Vorwürfe wirken in Teilen konstruiert und erwecken den Eindruck, dass vieles einfach nicht verstanden wurde – möglicherweise auch bewusst.

Nicht genug damit, dass das BMG die Inhalte der Richtlinie abkanzelt, es stellt darüber hinaus teilweise schon lange praktiziertes Vorgehen in Notaufnahmen in Frage, etwa die Weiterleitung in die vertragsärztliche Versorgung.

Und das wiederum wirft die Frage auf, ob man im Ministerium überhaupt fähig und gewillt war, die beanstandeten Sachverhalte mit entsprechender Fachkenntnis zu prüfen. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass es dem BMG mit dieser Beanstandung gar nicht im Kern um die strukturierte Ersteinschätzung geht.

Die wahre Absicht ist viel grundsätzlicherer Natur: Die Politik will offenbar schlichtweg keine Steuerung, sondern erhält oder fördert einen ungebremsten Zugang in die stationäre Versorgung! Und damit ist sie leider nicht Teil der Lösung, sondern Teil der Probleme, die wir in der Versorgung haben.

Manche vermuten ja, dass das BMG hier auch deshalb auf der Bremse steht, weil es vor einer grundsätzlichen Reform der Notfallversorgung, die ja ebenfalls angekündigt ist, keine Fakten schaffen will. Gleiches könnte auf die letzte Woche von der Regierungskommission für die Reform der Krankenhausversorgung vorgelegten Empfehlungen für eine Reform des Rettungsdienstes zutreffen. Diese befasst sich vor allem mit der Finanzierung, schlägt aber auch strukturelle Anpassungen vor.

Die Ausgaben für den Rettungsdienst beliefen sich 2022 auf 8,4 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Zehnfache dessen, was die Krankenkassen für den ärztlichen Bereitschaftsdienst ausgeben und etwa die Hälfte dessen, was die hausärztliche Versorgung mit rund 220 Millionen Behandlungsfällen pro Jahr erhält. Ein Grund für den starken Kostenanstieg ist die immer häufigere medizinisch nicht gerechtfertigte Inanspruchnahme des Rettungsdienstes.

Die Kommission weist hier zurecht auf die zentrale Bedeutung der Praxen als erste Anlaufstelle hin. Auch hier spielt eine präzisere und zielgesteuerte Ersteinschätzung eine wichtige Rolle, um ungerechtfertigte Fahrten des Rettungsdienstes in die Kliniken zu vermeiden.

Auch die technische Vernetzung der 116117 und der 112 wäre hilfreich, wird aber in dem Kommissionspapier nicht adressiert. Immerhin werden die bereits vielerorts bestehenden und geplanten Kooperationen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen, Rettungsleitstellen und Rettungsdiensten im Kommissionskonzept anerkannt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 5. September haben wir uns mit vielen von Ihnen anlässlich unseres jährlich stattfindenden MED.Summer in Brüssel getroffen und mit Protagonisten der EU-Kommission unter anderem zum Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) und zur Reform der EU-Pharmagesetzgebung ausgetauscht.

Dabei zeigt sich immer wieder, wie wichtig unsere Präsenz als KV-System vor Ort ist, weil immer mehr dessen, was dort präjudiziert wird, am Ende Auswirkungen auf die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den Praxen hat. Beim EHDS sind das etwa die absehbaren Auswirkungen auf das Arzt- bzw. Psychotherapeut-Patienten-Verhältnis, der zu befürchtende Datenabfluss aus den Praxen etc.

Noch haben die beteiligten Ausschüsse im EU-Parlament zu keiner gemeinsamen Haltung zum Thema EHDS gefunden, eine Abstimmung wird im Laufe des Septembers erwartet. Wir bleiben dran und werden weiter berichten, genauso wie bei allen weiteren relevanten Aktivitäten der EU, etwa den Lehren aus der Pandemie, zu Lieferengpässen, der Initiative zur psychischen Gesundheit, Antibiotika und so weiter. 

Der Eindruck, dass wir dabei in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen dürfen, verstärkt sich zusätzlich, wenn man die Grundsatzrede der Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen vergangenen Mittwoch im EU-Parlament verfolgt hat. Zwar hat sie die Gesundheitspolitik nicht direkt angesprochen. Aber sie hat durchblicken lassen, dass die EU-Grundlagenverträge aus ihrer Sicht nicht sakrosankt seien.

Das könnte langfristig eine Aufweichung des Subsidiaritätsprinzips bedeuten. Und hier gäbe es durchaus Kräfte, die eine deutlich zentralisiertere europäische Gesundheitspolitik und mehr Kompetenzen für die Kommission befürworten.

Manchmal gibt es aber auch Entwicklungen im positiven Sinne. So will die EU den elektronischen Impfpass weiter vorantreiben – eine Anwendung, deren Nutzen für die Versorgung man uns gegenüber, als wir den Vorschlag vortrugen, seitens des BMG noch als nachrangig abtat.

Wird dieses Vorhaben technisch gut gemacht, könnte es ein erstes echtes digitales Werkzeug sein, das die Versorgung positiv beeinflusst; was zeigt, dass man eben doch besser diejenigen fragen soll, die sich mit Versorgung auskennen. Eine Binsenweisheit – eigentlich. Das muss jetzt nur noch der Minister begreifen.

Vielen Dank

Es gilt das gesprochene Wort.