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Reden

Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung

15. September 2023

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

wir haben es eben in dem Einspieler gehört: Auf die Frage von Journalisten nach unserem Forderungspapier vom 18. August ist sich der Bundesgesundheitsminister nicht zu schade, sich mit Erinnerungs- und Gedächtnislücken herauszureden.

Das scheint in der SPD eine Art Tradition zu sein. Getreu dem Motto: Was mir nicht gefällt, wird einfach vergessen. Diese Nicht-Antwort, liebe Kolleginnen und Kollegen, spricht Bände und ist offen gesagt armselig! Sie bestätigt all unsere Befürchtungen, nämlich, dass dieser Gesundheitsminister nicht nur „auf dem ambulanten Auge“ blind ist, sondern offenkundig auch völlig taub für die Belange der Praxen.

Vor einer Woche hat derselbe Minister im Rahmen der Haushaltsdebatte des Bundestags noch eine flammende Rede gehalten, in der er unter anderem sagte, es gehe jetzt darum, das deutsche Gesundheitssystem wieder gesunden zu lassen, denn dieses sei „leider chronisch krank“. Diese Diagnose ist zutreffend, Herr Lauterbach, und wir haben die Ursache auch schon lokalisieren können!

Aber wahrscheinlich studiert der Minister derzeit eher gewissenhaft die Umfragewerte der SPD in Hessen und Bayern. Die Menschen spüren, dass sie sich nicht mehr auf die SPD verlassen können, gerade auch in der Gesundheitspolitik. Wie wäre es denn, Herr Lauterbach, sich jeweils im Wahlkampf einmal die Sorgen und Nöte von Haus- und Fachärzten in Bayern und Hessen anzuhören? Unsere Kollegen organisieren Ihnen gerne umgehend die Termine.

Nach unserem Krisengipfel im August gehen die Aktionen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) weiter. Dafür bin ich Ihnen allen hier sehr dankbar, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie als KVen sind der Motor in den Ländern, um die Proteste in die Fläche weiterzutragen. Vorgestern wurde zum Beispiel auf der von der KV Rheinland-Pfalz organisierten Protestveranstaltung „Lahnstein92“ der ambulanten Versorgung symbolisch ein Gelber Schein, sprich eine Krankschreibung, ausgestellt.

Und was gedenkt nun Herr Lauterbach zu tun? In seiner eben erwähnten Rede im Parlament sagte der Minister weiter, das drängendste Problem sei die zu geringe Lebenserwartung in Deutschland. Sogar die Auslandspresse berichte schon darüber. Um dieses Problem zu bewältigen, brauche man ein neues Institut für öffentliche Gesundheit.

Dieses Institut werde man im Herbst auf den Weg bringen. Zumindest ist dann für den Lebensunterhalt der dort Beschäftigten gesorgt. Ansonsten fällt einem nicht mehr viel dazu ein.

Herr Minister Lauterbach: Einer sinkenden Lebenserwartung würde man sinnvollerweise durch die Stärkung der medizinischen Strukturen in einem Land begegnen. Sie aber tun beharrlich das Gegenteil. Weder die ambulante noch die stationäre Versorgung erfährt die notwendige Unterstützung.

Ganz im Gegenteil: Cannabis, Gesundheitskioske, Health Nurses und dergleichen mehr – damit wollen Sie das Gesundheitssystem reformieren. In der Schule gäbe es angesichts der Bearbeitung der Probleme im deutschen Gesundheitswesen ein „Ungenügend“ – Thema verfehlt. Statt Millionen von Euro in die Errichtung neuer Behörden oder auch in Werbekampagnen zur Cannabis-Legalisierung zu stecken, sollte das Geld lieber in die chronisch unterfinanzierte ambulante Versorgung investiert werden. Das wäre eine wirksame Maßnahme gegen sinkende Lebenserwartung!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu einem anderen Thema, das aber in unmittelbarem Zusammenhang mit dem eben Gesagten steht: Die Finanzierungsverhandlungen waren dieses Jahr so kontrovers wie nie zuvor! Immerhin konnten wir bei den Verhandlungen zum Orientierungspunktwert mit dem GKV-Spitzenverband für 2024 eine Steigerung von knapp vier Prozent erreichen.

Das entspricht einem Plus von rund 1,6 Milliarden Euro. Das ist kein Grund, in Jubel auszubrechen. Positiv ist aber anzumerken, dass die Arztleistung im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) mit rund 4,66 Prozent gesteigert wurde und damit der Tarifsteigerung der Klinikärzte entspricht.

Vor allem konnten wir erreichen, dass Tarifvertragsänderungen bei den Medizinischen Fachangestellten (MFA) künftig unmittelbar in den Verhandlungen zum Orientierungswert (OW) berücksichtigt werden und nicht erst fast zwei Jahre später. Damit ist ein wichtiger erster Schritt in der Änderung der Systematik geschafft.

Weitere Forderungen unsererseits, wie die Dynamisierung der Kostenpauschalen, die Berücksichtigung des durch Arzneimittelengpässe wachsenden Mehraufwands in den Praxen sowie die Vergütung des gestiegenen speziellen Hygieneaufwands beim ambulanten Operieren, werden wir noch in gesonderten Terminen verhandeln. Das sind wichtige Schritte, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sich an der Systematik der Berechnung noch mehr ändern muss.

Auch wenn wir hier an vielen Fronten verhandeln, bleibt zu konstatieren, dass es eine grundsätzliche strukturelle, im fünften Sozialgesetzbuch angelegte Benachteiligung der Ärzteseite gibt. Es handelt sich um einen grundsätzlichen Systemfehler, der sich angesichts der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit zeitweilig zweistelliger Inflation etc., auch nicht mehr schönreden lässt.

Immerhin gelingt es den Partnern der Selbstverwaltung, bei allen Differenzen doch noch gemeinsam zu agieren. Denn es dürfte mittlerweile jedem klar sein: Wer sich auf die Versprechen von Minister Lauterbach verlässt, der ist verlassen.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zeigt kein Interesse mehr an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung, um die in Deutschland im Grundgesetz verankerte Subsidiarität umzusetzen, sondern versucht vielmehr wie weiland Ulla Schmidt, sukzessive den Turn zur Staatsmedizin mit der Brechstange durchzusetzen.

Deshalb müssen wir hier unseren Patientinnen und Patienten reinen Wein einschenken. Die haus- und fachärztliche und psychotherapeutische Versorgung, die von allen wertgeschätzt wird, wird es in der jetzigen Form nicht mehr lange geben, wenn wir Herrn Lauterbach nicht stoppen.

Zu diesem staatsmedizinischen Ansatz passt auch die Darstellung des BMG in seinem Anfang August veröffentlichten, sogenannten „Faktenblatt“. Dort behauptet das BMG, die Praxen hätten sich in der Corona-Pandemie eine goldene Nase verdient. Allein durch die Impfungen hätten die Ärzte einen „Mehrumsatz von insgesamt mindestens zwei Milliarden Euro verdient“.

Nicht genug damit, dass das Ministerium hier in altbekannter Manier suggeriert, Umsatz sei gleichbedeutend mit Einkommen. Es war zusätzliche Arbeit, oftmals abends und am Wochenende, die unsere Praxen geleistet haben. Die damalige Bundeskanzlerin hatte uns um genau diese Unterstützung gebeten, weil man es mit den Impfzentren allein schlicht nicht hinbekommen hätte.

Ich frage Sie, Herr Minister Lauterbach: Wo wären wir denn heute ohne die 97 Millionen Impfungen, die in den Praxen stattgefunden haben? Wahrscheinlich würden wir immer noch alle mit Maske rumlaufen und hätten den zehnten Lockdown hinter uns. So sieht es doch aus!

Ganz zu schweigen davon, dass die Praxen mit ihrem Engagement dem Bundeshaushalt hunderte Millionen Euro gespart haben, weil das Impfen dort nur einen Bruchteil dessen gekostet hat, was es in den Impfzentren gekostet hat. Aber dass die Praxen und ihr Personal, das kürzlich wieder hier in Berlin auf die Straße gegangen ist, um der Gesundheitspolitik die „Rote Karte“ zu zeigen, für diese enorme Kraftanstrengung überhaupt Geld bekommen, scheint geradezu ehrenrührig.

Gerade mit Blick auf die Pandemie gibt es genug andere Ausgabenposten, die kritikwürdig sind. Das sieht auch der Bundesrechnungshof so. Der hat in seinem Prüfbericht zum Bundeshaushalt 2024 klare Worte gefunden. Er geißelt nicht nur die hohen Ausgleichszahlungen an die Krankenhäuser in der Pandemie als „Leere-Betten-Prämie“.

Mit weiteren Zahlungen in Milliardenhöhe habe der Bund von den für die Krankenhausplanung zuständigen Ländern zu verantwortende „dysfunktionale Krankenhausstrukturen“ finanziert. Besonders kritisieren die Finanzprüfer die Kostenübernahme für Corona-Tests bei Personen ohne Krankheitssymptome, den überteuerten Einkauf von Schutzmasken und die hohe Entsorgungskosten für Millionen von Masken, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Was einmal mehr zeigt: Statt einer Politik mit „Rasenmäher und Gießkanne“, wie in der Pandemie, brauchen wir endlich gezielte und bedarfsorientierte Maßnahmen!

Übrigens, Herr Minister: Die zwei Milliarden Euro, die Sie den Praxen einmalig für das Impfen vorrechnen, diese zwei Milliarden Euro werden der ambulanten Versorgung jedes Jahr durch die Budgetierung vorenthalten, und das schon seit Jahrzehnten! Das BMG schreibt es in seinem sogenannten „Faktenpapier“ selbst: Im Jahr 2022 lag der Anteil der extrabudgetär vergüteten Leistungen an der gesamten vertragsärztlichen Vergütung bei 42,9 Prozent.

Heißt im Umkehrschluss: Mehr als die Hälfte wurde nicht zum vollen Preis bezahlt! Deshalb lautet eine unserer Kernforderungen, losgelöst von allen OW-Systematiken: Weg mit dem Budget!

Die Stimmung in den Praxen ist an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Das hat nicht nur unsere Krisensitzung am 18. August eindrucksvoll gezeigt, sondern auch die zahlreichen nachfolgenden Veranstaltungen, die die KVen auf die Beine gestellt haben. Auch die neueste Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung bestätigt dieses Stimmungstief.

Demnach beurteilt über die Hälfte der Niedergelassenen, nämlich 55 Prozent, ihre berufliche Situation als schlecht beziehungsweise sehr schlecht. Und zwar nicht nur wegen der chronischen Unterfinanzierung, sondern wegen überbordender Bürokratie, versorgungsfernen Digitalisierungsvorhaben, Fachkräftemangel und mangelnder Wertschätzung. Und daran, Herr Lauterbach, haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen der Ampel maßgeblichen Anteil.

Erwin Rüddel, Mitglied des Gesundheitssauschusses des Bundestages, hat vorgestern bei der Veranstaltung „Lahnstein92“ der KV Rheinland-Pfalz das Wort der Zeitenwende von Bundeskanzler Scholz aufgegriffen und gesagt, eine solche stünde auch im Gesundheitswesen bevor. Richtig, Herr Rüddel! Diese Zeitenwende kann allerdings in zwei verschiedene Richtungen gehen. Entweder, es gelingt der Politik, das Zeitalter der Ambulantisierung proaktiv und positiv zu gestalten.

Wie kann das gehen? Indem die Praxen befähigt werden, den „Nachfrageüberhang“ zu bewältigen, den der medizinisch-technische Fortschritt, die demografische Entwicklung sowie die Engpasssituation in den Krankenhäusern verursacht. Sprich, Politik muss Versorgung ermöglichen und nicht verhindern. Die Alternative wird sein, dass immer mehr Kolleginnen und Kollegen erst in die innere Emigration gehen und am Ende in die echte und aus dem System aussteigen.

Das Praxissterben, das sich jetzt – nicht erst in zehn Jahren! – schon schleichend vollzieht, wird dann unvermeidlich zum Kollaps der ambulanten Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten führen. Auch das wäre eine Zeitenwende. Allerdings eine, die sich keiner ernsthaft wünschen kann – außer vielleicht die Verfechter einer zentral gesteuerten, quasi nicht-ärztlichen Staatsmedizin.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Ambulantisierung sagen. Auch hier hat die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag ein Versprechen gegeben, nämlich: „Um die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern, setzen wir zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG um.“

Hier waren wir als Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und dem GKV-Spitzenverband ja aufgerufen, auf Basis eines Katalogs ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen, eine sektorengleiche Vergütung zu vereinbaren; und zwar eine, die unabhängig davon erfolgt, ob die Leistung ambulant oder stationär erbracht wird.

Das IGES-Gutachten hatte zunächst Hoffnung gemacht, aber wenn man ehrlich ist, lag der Konstellation der Verhandlungspartner DKG, GKV-Spitzenverband und KBV von Anfang an das Scheitern inne. Und wenn von den ursprünglich identifizierten, rund 2.500 potenziell ambulantisierbaren Leistungen am Ende nur 20 übrigbleiben, lehnen wir einen solchen Vorschlag ärzteseitig ab. Die Entscheidung liegt jetzt beim BMG, schon seit Monaten warten wir auf die entsprechende Rechtsverordnung. Dem Vernehmen nach ist allenfalls eine Minimallösung zu erwarten. So wird das mit der Ambulantisierung nichts!

Übrigens, das will ich an dieser Stelle nicht unterschlagen: In seiner Rede bei der Haushaltsdebatte im Bundestag hat Minister Lauterbach sich noch einmal bei den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegekräften und den MFA für ihr Engagement in der Pandemie bedankt. Das sei eine großartige Leistung gewesen, auf die Deutschland stolz sein könne.

Das, sehr geehrter Herr Minister, mutet im Kontext Ihrer aktuellen Politik bzw. Ihres Verhaltens gegenüber den über 730.000 Beschäftigten in den Praxen geradezu zynisch an. Ihre Aussagen im Bundestag, Ihr Agieren in Richtung Vertragsärzte gehen in der Realität diametral auseinander. Auf diese Art Dank können wir verzichten!

Herr Minister Lauterbach, wenn alles, was Ihnen zu den von uns vorgeschlagenen und aus unserer Sicht dringend notwendigen Maßnahmen für den Erhalt einer flächendeckenden ambulanten Versorgung einfällt, nun der Kommentar „tempi passati“ ist, also „vergangene Zeiten“, dann wird man in Deutschland nicht nur bei der nächsten Pandemie, die hoffentlich nicht so bald kommen möge, auf die Schlagkraft der Praxen verzichten müssen.

Deshalb meine dringende Empfehlung: Schauen Sie noch einmal gründlich auf Ihrem Schreibtisch nach – vielleicht finden Sie unter den ganzen Studien zu Long-Covid, Anbauhinweisen für Cannabis und Abrechnungsoptionen für Gesundheitskioske auch den Brief der KBV mit den Forderungen der deutschen Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten, den echten Experten für ambulante Versorgung.

Nehmen Sie sich die Forderungen sehr schnell zu Herzen, oder die Menschen in unserem Land erleben bereits in den nächsten Monaten eine andere Versorgung: weitere Wege, längere Wartezeiten und eine vom Budget diktierte Leistungsmenge. Schlichtweg, weil es ohne die dringend nötigen Änderungen nicht mehr anders geht. Das wären dann wirklich „tempi passati“.

Sollten Sie, Herr Lauterbach, den Brief der KBV nicht mehr finden oder Ihre Erinnerung daran nicht wiederkehren, werden wir als kassenärztliches System Ihnen gerne gemeinsam helfen, diese Erinnerung aufzufrischen. Keine Bundesregierung und kein Gesundheitsminister haben jeweils gegen die Realität der betroffenen Patientinnen und Patienten Politik machen können.

Da hilft vielleicht auch eine Erinnerung an die gegenwärtigen Wahlumfragen. Ein „tempi passati“ gilt sicherlich auch für die Politik. Und da schauen wir mal auf die Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Denn da haben die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidung, wie sie Ihre Politik bewerten.


Vielen Dank
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.