Bundespressekonferenz „Gesundheitspolitische Bilanz - Versorgung in Gefahr“
11. April 2024 - Statement von Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvorsitzender der KBV) auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der KBV, KZBV, DKG und ABDA
Sehr geehrte Damen und Herren,
dem deutschen Gesundheitswesen wird gerne ein zu starres Denken in Versorgungssektoren und uns als Vertretern von Praxen, Apotheken und Kliniken entsprechendes Lagerdenken vorgeworfen.
Die Tatsache, dass wir heute bereits zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode gemeinsam auf diesem Podium sitzen, und dass dieses Mal auch die Krankenhäuser dabei sind, sollte den Ernst der Lage deutlich machen, in der sich unser Gesundheitswesen befindet.
Wir sind hier, weil wir sehen, wie die Versorgung den Bach runtergeht und zwar in allen Bereichen! Wir sind hier, weil wir uns in gemeinsamer Verantwortung für das Gesamtsystem der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland sehen. Wir fordern, dass endlich auch die Bundesregierung ihrer Verantwortung für dieses Gesamtsystem gerecht wird. Es soll später niemand sagen, das hätte keiner gewusst.
Alles hängt mit allem zusammen: Minister Lauterbach hat kürzlich einen Gesetzentwurf für die Krankenhäuser vorgelegt, der massiv in die ambulante Versorgung eingreift – bis hin zu der aberwitzigen Idee, künftig sogar hausärztliche Versorgung zentral an umgewandelten Krankenhäusern stattfinden zu lassen. Dadurch wird sich der Hausärztemangel in der Fläche weiter verschärfen, noch mehr Praxen werden schließen. Die wohnortnahe Versorgung wird mit solchen Vorhaben nicht gestärkt, sondern weiter geschwächt und abgebaut.
Dabei ist in Fachkreisen allgemein anerkannt, dass gerade dort, wo Krankenhäuser umstrukturiert oder gar geschlossen werden, massiv in ambulante Strukturen investiert werden muss. (In Dänemark, das so gerne als Vorbild für seine Reformen herangezogen wird, soll beispielsweise bis zum Jahr 2035 die Zahl der Hausärzte um 45 Prozent steigen. Bei uns wird eher das Gegenteil der Fall sein.)
Den Gesetzentwürfen aus dem Hause Lauterbach ist eines gemeinsam: Versorgung wird zentralisiert und standardisiert – und zwar mit Standards, die völlig jenseits der Versorgungsrealität liegen.
So sollen etwa hausärztliche Praxen künftig eine jährliche Pauschale erhalten, aber nur, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, wie z. B. Samstagssprechstunden. Das ist vielleicht ein Service für die Patienten – ich selbst mache eine Samstagssprechstunde. Für die meisten Praxen, die ohnehin unter Personalmangel leiden, ist das jedoch schlicht nicht machbar.
Noch versorgen diese Praxen Millionen von Patienten. Mit den jetzigen Plänen des BMG wird gerade den kleineren Praxen so massiv Geld entzogen, dass viele nicht mehr überlebensfähig sein werden und die bis dahin von diesen versorgten Patienten keine Versorgung mehr erfahren.
Da hilft es auch wenig, wenn mit der geplanten Einführung einer Bagatellgrenze für Wirtschaftlichkeitsprüfungen endlich ein erster, lange überfälliger Schritt in Richtung Bürokratieabbau getan werden soll.
Diesem müssen zwingend weitere folgen. Wir als KBV haben hierfür konkrete Vorschläge gemacht, etwa der Verzicht auf ärztliche Krankschreibungen für Eltern, deren Kinder nur eine harmlose Erkältung haben.
Oder eine Geringfügigkeitsgrenze auch bei Anfragen von Krankenkassen und anderen Kostenträgern, mit denen die Praxen regelmäßig geflutet werden. Die entsprechenden Informationen müssen jedes Mal mit viel zeitlichem Aufwand zusammengesucht und in die unterschiedlichen Formulare eingetragen werden. Hier könnte Minister Lauterbach seine hochgelobte Digitalisierung mal wirklich Segen bringend wirken lassen.
Doch ein echter inhaltlicher Austausch des Ministeriums mit denjenigen, die die Menschen tatsächlich versorgen, um solche Verbesserungen zu besprechen, findet nicht statt. Alle paar Monate wird ein Gesprächskreis angeboten, dessen Ergebnisse im Prinzip aber vorher schon feststehen. Das zeigt sich fast schon beispielhaft heute: Um 16:00 Uhr sind Gerr Gaß und ich zum Verbändegespräch zur Krankenhausreform geladen – parallel zu dieser Veranstaltung findet bereits eine PK des Ministers statt, in der er über die Ergebnisse berichtet. Es werden großartige Reformen am Reißbrett entworfen, die schlussendlich an der Realität – übrigens auch an der Realität der Regierungskoalition – scheitern müssen.
Um es ganz klar zu sagen: Unter diesen Bedingungen werden Praxen, Apotheken und Krankenhäuser die Versorgung von 83 Millionen Menschen in Zukunft nicht mehr sicherstellen können!
Wir als diejenigen, die die Menschen vor Ort versorgen, brauchen verlässliche Rahmenbedingungen und die Möglichkeit, diese dann praxisnah und bedarfsgerecht auszugestalten. Was wir nicht brauchen, sind starre Detailvorgaben, in die alles hineingepresst wird, ohne Rücksicht auf Verluste.
Umfragen belegen, dass 90 Prozent der Praxen die Patientenversorgung als gefährdet einstufen. Und die Menschen spüren das. Über eine halbe Million Bürgerinnen und Bürger haben Ende letzten Jahres eine Bundestagspetition für den Erhalt ihrer wohnortnahen ambulanten Versorgung unterzeichnet.
Die Versorgung in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren massiv verändern, wenn Politik nicht gegengesteuert, und zwar jetzt. Die Praxis um die Ecke wird zum Auslaufmodell; wer krank ist, wird sich in einem 30 Kilometer entfernten anonymen Versorgungszentrum eine Nummer ziehen und von einem unbekannten Arzt behandeln lassen dürfen – sofern ein solcher überhaupt noch vor Ort ist. Es drohen britische oder amerikanische Verhältnisse: Für die einen die individuelle Behandlung durch den Arzt oder die Ärztin des Vertrauens in einer Praxis, für die anderen eine Beratung to go durch die Community Nurse im Gesundheitskiosk. Und dann haben wir eine echte Zwei-Klassen-Medizin!
(Es gilt das gesprochene Wort.)