Die Arztzeit sinkt. Woran liegt das?
Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV:
„Ja, auch wenn gemessen an der Zahl der Köpfe der Ärztinnen und Ärzte, die leicht gestiegen ist, insgesamt die Arztzeit singt, gibt es dafür mehrere Gründe. Der Hauptgrund ist sicher die neuen Modelle von Arbeitszeit. Insgesamt wird weniger pro Woche gearbeitet. Das gilt für Männer wie für Frauen, und das ist der größte Block, warum trotz der stabilen oder leicht steigenden Kopfzahl die Arztzeit am Patienten massiv sinkt.“
Gibt es weitere Gründe?
„Es gibt da eine ganze Vielzahl von weiteren Gründen, die dazu beitragen. Ein Grund ist zum Beispiel, dass die Hochspezialisierung in der Medizin dazu geführt hat, dass es viele Fachentitäten gibt. Denken Sie an die Internisten. Das war früher mal einer, das sind heute sieben, acht, neun verschiedene Fachspezialitäten. Das ist auch wichtig für die Patientinnen und Patienten, dass das Fachleute sind, heißt aber, wir brauchen mehr Köpfe. Auch das reduziert die Arztzahl oder die Arztzeit. Weiter reduziert die Arztzeit die Bürokratie, letztendlich auch der ganz hohe Frauenanteil, denn zum Glück bekommen die Frauen Kinder, aber das heißt, die fallen auch eine Zeit lang aus. Das sind alles kleine Faktoren, die zusätzlich mitzählen. Wir haben in der Pädiatrie zum Beispiel, in der Allgemeinmedizin Frauenanteile bei über 60 Prozent und teilweise 70 Prozent schon. Das heißt, hier verändert sich sehr viel, und damit sinkt insgesamt die zur Verfügung stehende Arztzeit.“
Was bedeutet es, wenn die Arztzeit sinkt?
„Ja, die Zeit, um Patienten zu versorgen, sinkt einfach, und es wird die Herausforderung der Zukunft sein, zu schauen, dass Ärztinnen und Ärzte immer dann für die Patientinnen und Patienten da sind, wenn die wirklich einen Arzt, eine Ärztin benötigen und sich die Ärztinnen und Ärzte möglichst mit nichts anderem beschäftigen außer der Versorgung von Menschen. Sie müssen also entlastet werden von der Bürokratie. Wir müssen den Beruf attraktiv halten, und wir werden mehr Köpfe brauchen.“
Wann ist ein kritischer Punkt erreicht?
„Ja, das mag ich schwer einschätzen, da wir in Deutschland natürlich von einem ganz hohen Niveau des Arztzugangs ausgehen. Wir haben ja hier immer die Erwartungshaltung, dass man für alles und jedes jederzeit einen Arzt für seine medizinischen Probleme konsultieren kann. Das ist ja weltweit nirgends so. Also, wenn Sie mich fragen, wann wird es kritisch? Da ist sicher noch ein bisschen Luft. Wann wird's aber unbequem, und wann wird die Politik nervös? Wann wird Bürgerin und Bürger nervös? Das passiert jetzt schon, obwohl wir eine ganz hohe Versorgungsdichte haben. Das heißt, wir müssen zwischen Bedarf und Bedürfnis unterscheiden.“
Was heißt das?
„Jemand hat mal gesagt, wir haben einen Sozialvertrag in unseren Sozialversicherungssystemen. Das halte ich für richtig und für eine kluge Aussage. Ein Sozialvertrag würde aber bedeuten, dass beide Seiten oder alle Beteiligten auch an diesen Vertrag gebunden sind, und anders als in fast allen anderen Systemen, die wir kennen, gibt es hier keine Checks and Balances. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen auch lernen, wann muss ich zu welchem Zweck Ärztinnen und Ärzte konsultieren, und diejenigen müssen sich dann auch um die Kranken kümmern, die wirklich diese Zeit brauchen. Und für alles andere haben wir weder Köpfe letztendlich noch Geld.“
Was muss noch getan werden?
„Reduktion der Bürokratie, möglichst Entlastung von allen nicht ärztlichen Aufgaben. Es kann ganz kleine Rolle kann spielen die Digitalisierung. Wird sehr überschätzt. Denn zehn Minuten am Videotelefon ist genauso zehn Minuten Arztzeit wie zehn Minuten physische Untersuchung, aber eine kleine Hilfe kann es sein. Das Wegfallen von Wegen, also der Arzt im Auto auf dem Weg zum Patient ist die schlechteste Zeit-Nutzung dieser Qualifikation. Es gibt eine ganze Menge kleiner Dinge, mehr Ausbildung und wahrscheinlich eine Ausdünnung der Strukturen. Die wird notwendig sein, wie wir es auch in der Krankenhauslandschaft sehen. Weil mit den bestehenden Menschen, und das gilt nicht nur für Ärztinnen und Ärzte, das gilt ja auch für alle anderen medizinischen Berufe, in denen wir Hunderttausende offene Stellen haben, wird man wahrscheinlich das Angebot reduzieren müssen.“
Wen sehen Sie in der Pflicht?
„Ja, vor Ort ist das das System der Selbstverwaltung. Das System der Selbstverwaltung kann aber, wenn einfach gar keine Interessenten mehr da sind, auch nicht hexen, denn wir haben keine Ärztinnen und Ärzte im Keller und können die auch nicht klonen, und dann geht der Ball zurück an die Politik, die die Rahmenbedingungen schaffen muss. Und wenn zu wenige Menschen das machen wollen, wir aber diese Menschen brauchen, dann sind offenbar die Rahmenbedingungen nicht gut genug. Das ist eine ganz einfache Schlussfolgerung. Für die Rahmenbedingungen ist die Politik verantwortlich.“
Wird die Versorgung der Zukunft so aussehen wie heute?
„Ja, die wird sich sicher insgesamt verändern. Ich hoffe aber sehr im Sinne der Patientinnen und Patienten und auch als Mensch, der möglicherweise ja auch mal medizinische Hilfe in Anspruch nehmen muss, dass es weiterhin möglich sein wird, das auch zu bekommen hier, und zwar zu bezahlbaren Preisen, und tatsächlich auch Ärztinnen und Ärzte noch ansprechen und adressieren zu können für medizinische Nöte.“