Soziotherapie

Schwer psychisch Kranke leiden unter Fähigkeitsstörungen wie Kontaktstörungen und dem Verlust sozialer Bezüge. Soziotherapie kann für sie eine wertvolle Unterstützung sein und den regelmäßigen Besuch beim behandelnden Facharzt oder Psychotherapeuten sicherstellen.
Die Betroffenen werden von einem Soziotherapeuten begleitet – in enger Absprache mit dem Arzt oder Psychotherapeuten. Dies kann zum Beispiel ein Diplom-Sozialarbeiter, Diplom-Sozialpädagoge oder Fachkrankenpfleger für Psychiatrie sein.
Durch gezieltes Training und Motivierungsarbeit wird der Patientin oder dem Patienten geholfen, psychosoziale Defizite abzubauen und die erforderlichen Therapiemaßnahmen selbstständig zu nutzen.
Anspruchsvoraussetzungen
Anspruch auf Soziotherapie haben Versicherte ab 18 Jahren mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen aus
- dem schizophrenen Formenkreis (ICD-10-Abschnitt F20–20.6, F21, F22, F24, F25) oder
- der Gruppe der affektiven Störungen mit psychotischen Symptomen (ICD-10-Abschnitt F31.5, F32.3, F33.3).
Bei diesen Diagnosen ist Soziotherapie indiziert, wenn eine ernsthafte Beeinträchtigung festgestellt wird: Der Orientierungswert auf der GAF-Skala liegt bei 40 und darf nicht über 50 gehen.
In begründeten Einzelfällen ist Soziotherapie auch verordnungsfähig bei Diagnosen aus dem gesamten ICD-10-Kapitel für Psychische und Verhaltensstörungen (F00 bis F99). Es muss eine starke Beeinträchtigung vorliegen, was bedeutet, dass der GAF-Wert bei kleiner/gleich 40 liegt.
GAF-Skala
Bei der Verordnung von Soziotherapie spielt die GAF-Skala (Global Assessment of Functioning Scale) eine wichtige Rolle. Sie wird verwendet, um das allgemeine Funktionsniveau einer Person zu erfassen.
Die GAF-Skala ist in 10 Funktionsniveaus mit je 10 Punkten unterteilt. Sie reicht von 100 (höchstes Leistungsniveau) bis zu 1 (niedrigstes Leistungsniveau). Innerhalb der 10er-Schritte können weitere Abstufungen vorgenommen werden.
100–91 Prozent: Hervorragende Leistungsfähigkeit in einem breiten Spektrum von Aktivitäten; Schwierigkeiten im Leben scheinen nie außer Kontrolle zu geraten; keine Symptome
90–81 Prozent: Keine oder nur minimale Symptome (z.B. leichte Angst vor einer Prüfung), gute Leistungsfähigkeit in allen Gebieten, interessiert und eingebunden in ein breites Spektrum von Aktivitäten, sozial effektiv im Verhalten, im Allgemeinen zufrieden mit dem Leben, übliche Alltagsprobleme oder -sorgen (z.B. nur gelegentlicher Streit mit einem Familienmitglied)
80–71 Prozent: Wenn Symptome vorliegen, sind dies vorübergehende oder zu erwartende Reaktionen auf psychosoziale Belastungsfaktoren (z.B. Konzentrationsschwierigkeiten nach einem Familienstreit); höchstens leichte Beeinträchtigung der sozialen beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit (z.B. zeitweises Zurückbleiben in der Schule)
70–61 Prozent: Einige leichte Symptome (z.B. depressive Stimmung oder leichte Schlaflosigkeit) ODER einige leichte Schwierigkeiten hinsichtlich der sozialen, beruflichen oder schulischen Leistungsfähigkeit (z.B. gelegentliches Schuleschwänzen oder Diebstahl im Haushalt), aber im Allgemeinen relativ gute Leistungsfähigkeit; Bestehen einiger wichtiger zwischenmenschlicher Beziehungen
60–51 Prozent: Mäßig ausgeprägte Symptome (z.B. Affektverflachung, weitschweifige Sprache, gelegentliche Panikattacken) ODER mäßig ausgeprägte Schwierigkeiten bezüglich der sozialen, beruflichen oder schulischen Leistungsfähigkeit (z.B. wenige Freunde, Konflikte mit Arbeitskollegen, Schulkameraden oder Bezugspersonen)
50–41 Prozent: Ernste Symptome (z.B. Suizidgedanken, schwere Zwangsrituale, häufige Ladendiebstähle) ODER eine Beeinträchtigung der sozialen, beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit (z.B. keine Freunde, Unfähigkeit, eine Arbeitsstelle zu behalten)
40–31 Prozent: Einige Beeinträchtigungen in der Realitätskontrolle oder der Kommunikation (z.B. Sprache zeitweise unlogisch, unverständlich oder belanglos) ODER starke Beeinträchtigung in mehreren Bereichen, z.B. Arbeit oder Schule, familiäre Beziehungen, Urteilsvermögen, Denken oder Stimmung (z.B. ein Mann mit einer Depression vermeidet Freunde, vernachlässigt seine Familie und ist unfähig zu arbeiten; ein Kind schlägt häufig jüngere Kinder, ist zu Hause trotzig und versagt in der Schule)
30–21 Prozent: Das Verhalten ist ernsthaft durch Wahnphänomene oder Halluzinationen beeinflusst ODER ernsthafte Beeinträchtigung der Kommunikation und des Urteilsvermögens (z.B. manchmal inkohärent, handelt grob inadäquat, starkes Eingenommensein von Selbstmordgedanken) ODER Leistungsunfähigkeit in fast allen Bereichen (z.B. bleibt den ganzen Tag im Bett, hat keine Arbeit, kein Zuhause und keine Freunde)
20–11 Prozent: Selbst- und Fremdgefährdung (z.B. Selbstmordversuche ohne eindeutige Todesabsicht, häufig gewalttätig, manische Erregung) ODER ist gelegentlich nicht in der Lage, die geringste Hygiene aufrechtzuerhalten (z.B. schmiert mit Kot) ODER grobe Beeinträchtigung der Kommunikation (größtenteils inkohärent oder stumm)
10–1 Prozent: Ständige Gefahr, sich oder andere schwer zu verletzen (z.B. wiederholte Gewaltanwendung) ODER anhaltende Unfähigkeit, die minimale persönliche Hygiene aufrechtzuerhalten ODER ernsthafter Selbstmordversuch mit eindeutiger Todesabsicht
0: Unzureichende Information
Verordnungsbefugnis
Die Voraussetzungen, die Art und der Umfang der Versorgung mit Soziotherapie sind in der Soziotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses geregelt.
Psychotherapeuten und Ärzte folgender Fachrichtungen dürfen Soziotherapie verordnen:
- Psychiatrie und Psychotherapie
- Nervenheilkunde
- Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
- Neurologie
- Kinder- und Jugendpsychiatrie (in therapeutisch begründeten Fällen in der Übergangsphase ab dem 18. Lebensjahr bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres Fachärzte mit Zusatz-Weiterbildung Psychotherapie)
- Psychologische Psychotherapeuten
- Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (in therapeutisch begründeten Fällen in der Übergangsphase ab dem 18. Lebensjahr bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs)
- Psychiatrische Institutsambulanzen beziehungsweise dort tätige Fachärzte
Für die Verordnung von Soziotherapie benötigt der Arzt oder Psychotherapeut eine Genehmigung seiner Kassenärztlichen Vereinigung. Auf dem Antrag ist unter anderem anzugeben, mit welchen Einrichtungen er kooperiert (gemeindepsychiatrischer Verbund oder vergleichbare Versorgungsstrukturen).
Verordnung ausstellen
Verordnung auf Muster 26
Die Verordnung von Soziotherapie erfolgt auf Muster 26. Hier sind unter anderem der Schweregrad der Erkrankung laut GAF-Skala sowie Art und Ausprägung der Fähigkeitsstörung anzugeben. Das Original wird zusammen mit dem Betreuungsplan zur Genehmigung bei der Krankenkasse eingereicht.
Je Patient dürfen insgesamt 120 Stunden Soziotherapie innerhalb von höchstens drei Jahren verordnet werden. Nach Ablauf dieser Zeit kann der Arzt oder Psychotherapeut erneut Soziotherapie verordnen – auch bei gleicher Krankheitsursache.
Das Gesamtkontingent von 120 Stunden wird in einzelnen Schritten bis maximal 30 Therapieeinheiten abgerufen. Dabei dürfen immer nur so viele Einheiten verordnet werden, wie nötig sind, um festzustellen, dass die im Betreuungsplan festgehaltenen Therapieziele erreicht wurden oder eben nicht.
Betreuungsplan auf Muster 27
Der Arzt oder Psychotherapeut sucht gemeinsam mit seinem Patienten einen geeigneten Soziotherapeuten aus und nimmt Kontakt auf. Er bespricht mit dem Soziotherapeuten die Patientenproblematik und welche Betreuung sich daraus ergibt. Alle Details werden im soziotherapeutischen Betreuungsplan (Muster 27) festgehalten.
Der Betreuungsplan enthält neben therapeutischen Maßnahmen, zeitlicher Strukturierung und Prognose vor allem auch die erforderlichen Teilschritte und Therapieziele, zum Beispiel:
- Nahziele: Hinführen zur Arztpraxis oder zum Psychotherapeuten Vermeidung erstmaliger oder weiterer stationärer Behandlung Selbstverantwortliche Einnahme der verordneten Medikamente
- Fernziele: Selbstständige Inanspruchnahme der verordneten Maßnahmen wie Ergotherapie oder Leistungen der medizinischen Rehabilitation
- Nah- und Fernziele: Aufbau einer geregelten Tages- und Wochenstruktur Einhalten von verbindlichen Terminen und Absprachen Erkennen von Realitätsbezug und Umgang mit Krankheitszeichen
Genehmigung
Die Verordnung und der Betreuungsplan sind bei der Krankenkasse einzureichen. Im Fall einer Genehmigung übernimmt die Krankenkasse die Kosten einer Soziotherapie für maximal 120 Stunden innerhalb von drei Jahren.
Bei Erfordernis können später noch einmal bis zu 120 Stunden Soziotherapie gewährt werden, auch wenn die Diagnose sich nicht geändert hat.
Probestunden
Zur Abklärung der Therapiefähigkeit können Ärzte oder Psychotherapeuten auf Muster 26 zunächst Probestunden verordnen – bis zu fünf. Probestunden sind je Patient maximal zweimal pro Jahr möglich und müssen nicht vorab von der Krankenkasse genehmigt werden. Folgt auf die Probestunden eine Soziotherapie, werden die Stunden auf das Gesamtkontingent angerechnet.
Ausfüllhinweise
Abrechnung und Vergütung
Die Verordnung einer Soziotherapie wird über die GOP 30810 und 30811 abgerechnet. Die aktuelle Bewertung der Gebührenordnungspositionen kann im Online-EBM eingesehen werden.
Zuzahlung
Die gesetzliche Zuzahlung für Soziotherapie beträgt 10 Prozent pro Kalendertag, mindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro. Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs sind von der Zuzahlung befreit.
Generell gilt: Zuzahlungen sind nur bis zur finanziellen Belastungsgrenze zu leisten. Das sind 2 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen, bei chronisch Kranken 1 Prozent.
Soziotherapie begleiten
Eine Soziotherapie ist nicht mit einer Verordnung abgeschlossen. Der Arzt oder Psychotherapeut koordiniert die Zusammenarbeit mit dem Soziotherapeuten und dem Versicherten.
Mindestens jeden zweiten Monat besprechen alle Beteiligten den Therapieverlauf und passen die Therapieziele und soziotherapeutischen Leistungen gegebenenfalls an. Grundlage ist die Dokumentation des Soziotherapeuten zu den durchgeführten Maßnahmen, dem Behandlungsverlauf und den bereits erreichten und noch verbleibenden Therapiezielen.
Es kann vorkommen, dass der Versicherte während einer laufenden Soziotherapie in stationäre Behandlung muss. Der Betreuungsplan kann dann nicht mehr eingehalten werden.
In diesem Fall versucht der Soziotherapeut, eine frühestmögliche Entlassung zu erreichen. Gemeinsam mit dem ambulant behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten kümmert er sich um die Wiederaufnahme der Soziotherapie.
